Die Welt ist unser Spiegel – Gendün Rinpoche

Tal-buddhist

Gendün Rinpoche-Tal-buddhistDie Welt ist unser Spiegel –
Gendün Rinpoche

Die Welt ist unser Spiegel“
Lama Gendün Rinpoche
(1918 – 1997)

Der Augenblick, in dem wir erstmalig die Wirklichkeit hinter der vom Ego geschaffenen Maske entdecken, reicht aus, die emotionale Verwirrung zum Kurzschluss zu bringen, so dass wir für den Bruchteil einer Sekunde Weisheit erfahren…

Nicht-Denken ist ein freier, natürlicher gewahrer Geisteszustand, in dem Gedanken erscheinen, ohne dass wir aber an ihnen haften, so dass kein ‚Denken‘, kein Gedankenprozess im üblichen Sinne des Wortes, entsteht…

Der wahre Sinn der Unterweisungen eröffnet sich uns, wenn wir der Bedeutung hinter den Worten lauschen und uns für ihren tieferen Sinn öffnen…

Die Welt ist unser Spiegel: Ist sie voller Aggression, bedeutet das, dass wir selbst aggressiv sind. Lächelt sie uns zu, zeigt das, dass wir selbst freundlich sind. Solange wir das nicht verstehen, werden wir uns ständig über die Außenwelt Gedanken machen.

Wir werden unsere eigenen Gedanken in andere hineinprojizieren und denken: ‚Ah, der denkt jetzt garantiert dies und das. Das kann man doch deutlich sehen.‘ Unser Bild der anderen ist aber nichts als ein Spiegel unserer selbst…

Gendün Rinpoche

hatte 30 Jahre lang in völliger Abgeschiedenheit in Klosterzellen in Tibet und Indien gelebt, teilweise in größter Dunkelheit und Isolation, bevor er 1975 von seinem Lehrer, dem 16. Karmapa nach Frankreich in die Dordogne geschickt wurde, wo er das Klausurzentrum und Kloster Dhagpo Kundreul Ling gründete und bis zu seinem Tode leitete.

Jenseits von allem Medienspektakel hatte er Tausende von Menschen spirituell unterwiesen, viele waren über einen geschlossenen Zeitraum von 3 Jahren bei ihm.
Ich habe keine Lebensgeschichte. Ich habe nur Tee getrunken und Tsampa gegessen.

Gendün Rinpoche

bewegte sich stets meditativ in sein Innerstes Universum, in die völlige Leere und Klarheit des Geistes.

Königliche Sicht ist,
alle Vorstellungen von Subjekt und Objekt
hinter sich zu lassen.
Königliches Handeln ist,
frei von Anstrengung, Annehmen und Aufgeben zu sein.
Hoffnung und Furcht loslassend offenbart sich die Frucht.
Jenseits aller Bezugspunkte erstrahlt das Wesen des Geistes.
Was im Tod bleibt, ist unser Geist, unsere Sichtweise der Dinge und das, was an Vertrauen, Erfahrungen und Verwirklichung in unserem Wesensstrom entstanden ist.

Die Kindheit in Kham

Lama Gendün Rinpoche wurde im Jahr 1918 in der Provinz Nangtschen in Kham geboren. Kham ist eine Region im Osten Tibets, deren Bewohner für ihren Mut und ihre Geradlinigkeit bekannt sind.

Rinpoches Vater war Bildhauer und meißelte bzw. schnitzte Mantras in Stein und Holz. Die Familie war weder besonders arm noch reich. Im Sommer führte sie ihre Herden auf die Weide und lebte in einem großen Zelt.

Als kleiner Junge baute sich Rinpoche manchmal etwas abseits eine Hütte aus belaubten Zweigen, in der er sich in Meditationshaltung hinsetzte und verkündete: „Ich bin ein Einsiedler.“ Schon als kleines Kind sehnte er sich nach einem spirituellen Leben und wünschte sich, einen Lama zu finden und den Dharma zu praktizieren. Er weinte oft wegen des Leides der Wesen und seiner Unfähigkeit, ihnen zu helfen.

Als Rinpoche sieben Jahre alt war,

gaben seine Eltern seinen wiederholten Bitten nach und brachten ihn in das nahegelegene Kloster von Khyodrag, wo er eine spirituelle Ausbildung erhielt. Er lebte sehr einfach und befolgte in allem die Regeln der Klostergemeinschaft. Aufgrund seiner großen Bereitschaft, anderen zu helfen und alles mit ihnen zu teilen, wurde er bald für viele ein Vorbild. Für die formellen Aktivitäten der Mönche wie das Rezitieren von Texten, Herstellen von Tormas und die rituellen Tänze interessierte er sich weniger: er wollte vor allem meditieren.

In den ersten Jahren im Kloster widmete sich Rinpoche dem Studium von Dharmatexten und dann begann er, sein Verständnis in der Meditation anzuwenden. Mit dreizehn Jahren führte er sein erstes Retreat in vollständiger Abgeschiedenheit durch, die einen Monat dauerte. Es folgten weitere, mehrmonatige Retreats. Mit etwa sechszehn Jahren begegnete Rinpoche dem 16. Gyalwa Karmapa zum ersten Mal, der, damals noch ein kleines Kind, sein Kloster besuchte. Mit siebzehn Jahren erhielt Rinpoche die vollen Mönchsgelübde.

Das Kloster Khyodrag

Das Kloster gehört zur Bharam-Kagyü-Übertragungslinie, die wie alle Zweige der Kagyü-Schule auf Gampopa zurückgeht, den Lehrer des ersten Karmapa Düsum Khyenpa.Rinpoche erzählte:

Unser Kloster war meistens ziemlich leer, denn nur wenige Lamas blieben das ganze Jahr dort. Die meiste Zeit praktizierten sie in den umliegenden Bergen in Höhlen oder Holzhütten. Sie trugen als einzige Kleidung das weiße Baumwolltuch der Yogis. Nur zu besonderen Anlässen, für spezielle Pudjas, trafen sie sich im Kloster.

Wenn alle zusammenkamen, waren es etwa 600 bis 700 Mönche, doch für gewöhnlich waren nicht einmal hundert anwesend. Es gab das kleine Mutterkloster, ein deutlich größeres Tochterkloster und vier Zentren für Gruppenretreats.

Retreatzeit und Pilgerreisen in Tibet (1939 bis 1959)

Mit einundzwanzig Jahren begann Gendün Rinpoche mit einer Gruppe von Praktizierenden ein dreijähriges Retreat, wie es in der Kagyü-Linie seit dem 19. Jahrhundert Tradition geworden ist.

Danach praktizierte er noch ein Jahr allein im Retreatzentrum und ging anschließend ein Jahr lang auf Pilgerreise, wobei er viele heilige Orte in Tibet besuchte. Diese Reise führte ihn auch nach Tsurphu in Zentral-Tibet, wo er Gyalwa Karmapa wieder traf. Von dort kehrte er dann wieder in sein Kloster in Ost-Tibet zurück und verbrachte weitere Jahre im Retreat. Rinpoche erzählte:

Nach siebeneinhalb Jahren sagte mir mein Wurzellama Khenpo Mingyur, ein völlig verwirklichter Lama, der im Kloster lebte, dass ich die Tür öffnen, herauskommen und tun könnte was ich wollte, denn ich hätte einen Punkt erreicht, an dem es nicht länger nötig sei, im Retreat zu bleiben.“ 

Rinpoche verließ also das Retreat

und es kamen viele Leute, um ihn zu sehen und ihm Fragen über den Dharma zu stellen. Da er das Gefühl hatte, ihnen nicht wirklich helfen zu können, begab er sich für weitere drei Jahre ins Retreat.

Eines Tages besuchte ihn sein anderer Wurzellama, Tulku Tendsin von Khyodrag und sagte:

Für Dich ist es jetzt an der Zeit hinauszugehen. Deine Meditation ist vollendet; du hast Verwirklichung in der Praxis erlangt und es ist nicht länger nützlich, in Zurückgezogenheit zu bleiben.
Du kannst von nun an durch ein Leben unter den Menschen zum Wohl der Wesen wirken. Deine Verwirklichung ist unumstößlich.Du bist wie ein goldener Fels, dessen kannst du sicher sein. Handle von jetzt ab nach Deinem eigenen Ermessen.
“ 

Doch erst nach einem zweiten Besuch von Tendsin Rinpoche

und auf das nachdrückliche Drängen von Khenpo Mingyur beendete Rinpoche die formelle Zurückziehung. Als der Gyalwa Karmapa nach Nangtschen kam, war dies ein großes Ereignis und auch Gendün Rinpoche begab sich dorthin, um ihn zu sehen. Anschließend ging er zusammen mit einem Mönch aus seinem Kloster wieder auf Wanderschaft, zunächst ohne eine Vorstellung, wohin sie gehen würden.

In Zentraltibet angekommen zogen wir uns ein Jahr zum Praktizieren in eine Höhle zurück, die Guru Rinpoche einst bewohnt hatte. Dann gingen wir noch ein Jahr auf Pilgerreise, auf der wir viele heilige Stätten in Tibet und Nepal besuchten und überall Wunschgebete machten und große Opfergaben darbrachten.

Während dieser Zeit praktizierte Lama Gendün als Yogi

der Mahamudra-Tschö-Tradition und akzeptierte nicht einmal im Winter ein Dach über dem Kopf. Die Nacht verbrachte er in Meditationshaltung: Er legte seine Stiefel auf den Schnee, setzte sich darauf, zog die Beine an den Körper und kreuzte die Arme darüber.

Nachdem er auf diese Weise ein Jahr unterwegs war, begab er sich wieder in Zurückziehung und setzte seine Praxis in abgeschiedenen Höhlen fort, in denen schon große Verwirklichte der Vergangenheit prak-tiziert hatten. Seine nächste Pilgerreise dauerte drei Jahre und führte ihn durch ganz Tibet, bis zum Berg Kailash.

Die Flucht nach Indien (1959 bis 1960)

Als sich Ende der fünfziger Jahre die Ereignisse in Tibet zuspitzten und das Land vollständig militärisch besetzt wurde, lebte Gendün Rinpoche immer noch zurückgezogen in den Bergen. Da erschien ihm eine Schutzgottheit, die ihm riet, nach Süden zu gehen und ihm ihren Schutz versprach. 

Rinpoche verbrachte allerdings noch weitere Monate mit intensiver Praxis in den Bergen, bis er sich entschloss, nach Ost-Tibet zurückzureisen. Unterwegs besuchte er nochmals Tsurphu und erfuhr dort, dass Karmapa bereits dabei war, Tibet zu verlassen.

Wir entschieden uns, ebenfalls zu fliehen. Es sah jedoch sehr schlecht aus, da die Chinesen bereits alle Fluchtwege abgeschnitten hatten. Ich bat die Drei Juwelen um Schutz und Hilfe, denn ich war zur Flucht entschlossen…. Es war eine Zeit großen Aufruhrs. Die Wider-standskämpfer aus Kham wie auch die Chinesen hielten alle an, die über Land zogen, und jeder wurde als Spion verdächtigt. Oft wurden Leute getötet, ohne dass ihnen Zeit für eine Erklärung blieb.


Den gefährlichsten Teil der Flucht beschrieb Rinpoche so:

Es gab in den Grenzgebieten sehr viele chinesische Soldaten, denn der Dalai Lama hatte gerade mit seinem Gefolge die Grenze überschritten. Wir sahen, dass die Chinesen den Pass auf dem Weg nach Indien bewachten.

Nach drei Tagen erfuhren die chinesischen Soldaten, dass wir in den Wäldern waren und suchten uns. Wir meditierten damals in einer Höhle von Retschungpa. Wir verließen sie und gingen in den Wald am Ende des Tales. Von dort suchten wir einen Weg, um nach Indien zu kommen.

Unser Fluchtweg war eigentlich kein Weg: Auf der einen Seite stiegen steile Berghänge an und auf der anderen war der Brahmaputra.  Damit war es für die Chinesen leicht, diese Strecke zu beobachten. Wir suchten überall nach einem Ausgang aus dem Tal. An einer Stelle, nahe einem großen Wasserfall, gab es einen gewundenen Pfad, der aus dem Tal heraus führte. Aber auch dieser wurde Tag und Nacht von schussbereiten chinesischen Soldaten bewacht.

Wir warteten die Nacht ab, um an ihnen vorbeizukommen. Sie hatten Taschenlampen und wir liefen so nahe bei den Wachtposten vorbei, dass wir ihre Waffen, ihre Zigaretten und ihre Tassen sehen und sogar den Rauch ihrer Zigaretten riechen konnten. Aber es war, als ob sie uns nicht sehen würden. Wir beteten zu den Drei Juwelen und gingen weiter, obwohl einige von uns vor Angst am ganzen Körper zitterten.

Zwei Stunden brauchten wir, um so an den Chinesen vorbeizukommen, und es ist sicher dem Segen der Zuflucht zu verdanken, dass wir nicht gefasst wurden.

In Indien kamen wir zunächst in das Sammellager in Musamari, wo wir drei Tage blieben. Dann wurde uns von der indischen Regierung mit-geteilt, dass wir 300 Tibeter begleiten sollten, die in Sikkim zur Arbeit eingeteilt waren. 

Die Männer hatten dort im Straßenbau eine ziemlich harte Zeit und baten mich, für sie Gebete an Tara zu machen. So verbrachte ich drei Wochen mit den Khampas in Sikkim. Dann erfuhr ich, dass der Gyalwa Karmapa mittlerweile im nahegelegenen Kloster Rumtek, seinem neuen Hauptsitz, war und machte mich mit einem Freund auf den Weg dorthin.“ 

Die Jahre in Indien und Bhutan

Karmapa bot ihnen an, in Kalimpong im Haus eines Sponsors zu wohnen.
Elf oder zwölf Jahre lebte Gendün Rinpoche dort mit drei weiteren Praktizierenden und sie verbrachten den ganzen Tag mit Meditieren.

Unter ihnen befand sich auch Lama Purtse, der Rinpoche später nach Frank-reich begleitete. Jedes Jahr fuhr Rinpoche nach Rumtek ins Kloster des Gyalwa Karmapa und erhielt von ihm zahlreiche Übertragungen.

1971 schickte Karmapa Rinpoche nach Bhutan, um einen Tempel zu betreuen, den die Mutter der Königin dort für Karmapa hatte bauen lassen.
Rinpoche lebte zurückgezogen in der Nähe des Tempels und widmete sich wieder intensiv seiner Praxis.

Der Auftrag des Gyalwa Karmapa

Bevor Karmapa sich 1974 auf seine erste Reise in den Westen begab, wandte er sich mit folgenden Worten an Rinpoche:

Ich werde nach Amerika und Europa reisen. Die Menschen dort leben in Wohlstand, aber sie leiden sehr unter Emotionen wie Stolz, Eifersucht, Begierde und Hass. Es ist wichtig, ihnen den Dharma zu bringen, denn nur ein authentischer spiritueller Weg kann sie aus ihrem Leid befreien.

Wenn alle Voraussetzungen für die Übertragung der Lehren des Mahayana zusammenkommen, wird es Deine Aufgabe sein, sie im Westen zu verbreiten. Ich weiß, dass Du ein Lama bist, der seine Praxis zum Abschluss gebracht hat. Für Dich ist jetzt die Zeit gekommen, zum Wohl der Wesen zu wirken.

Gendün Rinpotsche erzählte, dass er sich von der Aussicht auf eine solche Aufgabe völlig niedergeschmettert fühlte:

Mir fehlten die Worte; ich konnte einfach nichts antworten.

Nach seiner Rückkehr ließ Karmapa Rinpotsche nach Rumtek holen

und sagte zu ihm:

Ich war jetzt in Amerika und Europa und bin mir sicher, dass der Buddhismus dort wachsen wird. Ich habe bereits in Frankreich ein Stück Land erhalten. Dahin sollst du gehen….. Du hast mit mir eine solche karmische Verbindung, dass Du, wo immer ich den Dharma hinbringe, als Pionier hingehst.

Deswegen musst du jetzt unbedingt in den Westen fahren. Es ist wichtig und verheißt viel Gutes. Sei unbesorgt. Ich bin der Karmapa – und wenn du ein wenig Vertrauen in den Namen Karmapa hast, solltest Du meinen Worten Glauben schenken“, sagte er lachend.

“Wenn Du dann dort bist, sollst Du einen Tempel, ein Kloster sowie ein Retreatzentrum errichten und den Dharma lehren. Du solltest den Dharma nicht nur in einem Land, auf eine kleine Stelle begrenzt, weitergeben, sondern ihn weit verbreiten. Du musst bald gehen, denn die Zeit dafür ist reif.

Wird der Dharma nicht verbreitet, wird sehr großes Leid entstehen.  Gelingt es uns jedoch, die Lehre zu verbreiten, wird dieses Leid weit geringer sein; Dharmapraxis kann es mindern und sogar auflösen. Wir geben damit den Menschen die Möglichkeit, ihre Emotionen zu verstehen, Heilsames von Schädlichem zu unterscheiden und ihre Handlungsweise zum Positiven hin zu verändern. Dies wird sich auf die Welt günstig auswirken und deshalb schicke ich Dich in den Westen.

Pionierarbeit in Europa (1975 bis 1997)

Gründung des Dharmazentrums Dhagpo Kagyü Ling: siehe auch unter www.dhagpo-kundreul.org

Im August 1975 kam Lama Gendün Rinpoche in Frankreich an und ließ sich in der Dordogne auf dem Land nieder, das Karmapa geschenkt bekommen und zu seinem europäischen Hauptsitz erwählt hatte. Dort widmete sich Gendün Rinpotsche der ihm anvertrauten Aufgabe, den authentischen Dharma an die Menschen im Westen weiterzugeben.

Sowohl im täglichen Zusammenleben als auch in seinen Dharmabelehrungen vermittelte er ständig die wesentlichen Punkte des Weges – Bescheidenheit, Vertrauen, Mitgefühl, kontinuierliche Übung und Hingabe – und war selbst ein lebendiges Beispiel für das zu verwirklichende Ziel.

In den ersten Jahren seiner Aktivität reiste Gendün Rinpotsche viel und lehrte in den meisten Ländern Westeuropas.

Retreatzentrum in der Auvergne

Eine Gruppe von etwa zwanzig Schülern entwickelte den Wunsch, sich unter der Leitung von Gendün Rinpotsche intensiv der Meditationspraxis zu widmen. 1983 fanden sie einen geeigneten Ort dafür: der Tibetkenner, Filmemacher und spirituelle Lehrer Arnaud Désjardin bot ihnen ein ehemaliges Landschulheim in der Auvergne zum Kauf an. Der Sechzehnte Gyalwa Karmapa hatte in diesem Haus bereits zweimal die Zeremonie der schwarzen Krone abgehalten.

Im Jahre 1984 gründete Rinpoche dort das Drei-Jahres-Retreat-Zentrum Dhagpo Kündröl LingDer Ort, an dem sich alles befreit“.

Damit verwirk-lichte er den Wunsch des 16. Karmapa, westlichen Praktizierenden die Möglichkeit zu geben, die tiefgründigen Vajrayana-Lehren, einschließlich der Sechs Yogas von Naropa und des Mahamudra, unter bestmöglichen Bedingungen zu praktizieren.

Auf die Frage nach dem Sinn eines Drei-Jahres-Retreats antwortete Gendün Rinpotsche:

Der Sinn eines solchen Retreats besteht darin, anderen helfen zu können und das wahre Ziel unseres Lebens, die Erleuchtung, zu erreichen. Ein Retreat ist eine große Hilfe, um in tiefe Meditation hineinzufinden, die seit vielen Zeitaltern angesammelten ichbezogenen Tendenzen aufzulösen und Mahamudra zu verwirklichen.“

Rinpoche schränkte seine Reisen ins Ausland zunehmend ein

und verbrachte einen großen Teil seiner Zeit mit den Retreatgruppen. Er hatte die vierzehn Männer und fünf Frauen dieser ersten Gruppe bereits mehrere Jahre lang vorbereitet und gab ihnen alle für das Retreat notwendigen Übertragungen und Erläuterungen.

Er besuchte sie fast täglich im Retreat, sprach mit ihnen über ihre Meditationserfahrungen, klärte ihre Fragen und gab Rat, wie Hindernisse in ihrer Praxis aufzulösen seien. 

Rinpoche scheute sich nicht, seine Schüler auf ihre Fehler aufmerksam zu machen, wobei seine Grundhaltung von mitfühlender Liebe und Vertrauen in das Potential eines jeden, die Buddha-Natur, immer deutlich spürbar war.

Das Kloster

Nachdem die Retreatzentren eingerichtet waren, lag Rinpotsche besonders Gyalwa Karmapas Wunsch nach dem Aufbau einer Klostergemeinschaft am Herzen. Ihre Aufgabe besteht darin, die Lehren zu bewahren und an Interessierte weiterzugeben.

Heute besteht die Gemeinschaft aus rund 80 Mönchen und Nonnen, die alle ein oder zwei Drei-Jahres-Retreats durchgeführt haben. Sie verteilen ihre Zeit auf die Arbeiten im Kloster, Unterrichtstätigkeit in den Dharmazentren und die Weiterentwicklung ihrer eigenen Meditationspraxis.

Der Tempel

1993 begannen die in Dhagpo Kündröl Ling lebenden Schüler von Gendün Rinpoche mit dem Bau eines großen Tempels in der tibetischen Tradition, wie Karmapa ihn gewünscht hatte. Der Rohbau und die 1000 Buddhastatuen wurden rechtzeitig zum Ende der Drei-Jahres-Retreats im Herbst 1997 fertig.

Rinpoche empfing die Retreatteilnehmer im Tempel und nach der Empfangszeremonie segnete er alle Anwesenden – über tausend Besucher waren zu diesem festlichen Ereignis angereist! Dies war Gendün Rinpoches letztes Erscheinen in der Öffentlichkeit.

Im täglichen Leben

Gendün Rinpotsches Lebensweise war immer sehr einfach gewesen. Er stand früh auf und praktizierte die meiste Zeit in seinem Zimmer.
Vor dem Mittagessen empfing er Besucher, die zum Teil von sehr weit angereist kamen, erteilte Rat und gab Segen.
Nach dem Mittagessen machte er gern einen kleinen Spaziergang, meistens zur Stupa, die er Mantras murmelnd raschen Schrittes umkreiste.

Rinpoches Haltung war in jeder Hinsicht vor-bildlich, gleichzeitig war er völlig natürlich und spontan und strahlte große Freude aus. Jeder konnte sich ihm ohne Schwierigkeiten nähern; für alles war Platz in seiner Gegenwart und er wandte sich jedem mit derselben Auf-merksamkeit und Liebe zu. 

Obwohl es für gewöhnliche Menschen nicht möglich ist, die Qualitäten der Verwirklichung eines erleuchteten Meisters zu beurteilen, konnte doch jeder, der Rinpoche begegnete, unmittelbar seine Güte, sein warmherziges Mitgefühl und die Ausstrahlung seiner spirituellen Kraft wahrnehmen.

Abschied

Am 31. Oktober 1997, nach 22 Jahren des Wirkens und Lehrens in Europa, verließ Gendün Rinpotsche seinen Körper. Nach seinem Tod verweilte er zweieinhalb Tage in Meditation in der Natur des Geistes (Thugdam).

Während dieser Zeit blieb seine Herzgegend warm und sein Gesicht wirkte jung und strahlend. Rinpoche hatte seine Schüler seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet und gesagt:

Sorgt euch nicht, sondern bewahrt einen freudigen Geist. Haftet nicht an der körperlichen Gegenwart des Lamas, sondern meditiert auf den Lama, von dem ihr niemals getrennt seid.

Am 18. Dezember 1997 fand in Dhagpo Kündröl Ling unter Leitung von Künsig Shamar Rinpotsche im Beisein von Gendün Rinpoches Schülerinnen und Schüler und vieler, teils von weither angereister Praktizierender die rituelle Kremation des einbalsamierten Körpers statt.

16.07.2020
Roland R. Ropers

 


Über Roland R. RopersRoland-Ropers

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
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Sie sind Künstler, Wissenschaftler, politische Aktivisten, Mönche die von Gott erfüllten Menschen, die auch heute etwas aufleuchten lassen von der tiefen Erfahrung des Ewigen. Und oft sind sie alles andere als fromm.

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