Es ist unmöglich, bewusstlos zu sein

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Immer wieder werden innerhalb des allgemeinen Sprachgebrauchs Aussagen wie diese getroffen: „Er/sie hat sein/ihr Bewusstsein verloren.“ „Er/sie ist bewusstlos.“ Die Verwendung derartiger Begrifflichkeiten demonstriert bereits eine fundamentale Unkenntnis in Bezug auf unsere essentielle Natur.
Wir haben kein Bewusstsein, wir sind Bewusstsein.
Wir können verlieren, was wir haben bzw. zu haben scheinen, aber wie können wir das verlieren, was wir sind? Wie könnten wir von unserem Selbst getrennt werden? Es ist offensichtlich völlig unmöglich.
Trotzdem ist jener Irrglaube tief in uns verankert, welcher davon ausgeht, dass wir unser Bewusstsein verlieren und bewusstlos werden können – obwohl in der gesamten Geschichte der Menschheit niemals jemand einen auf Erfahrung basierenden Beweis dafür geliefert hat, dass das Bewusstsein kommt und geht. Niemand hat jemals die Geburt und den Tod seiner selbst erfahren, was natürlich ohnehin absolut ausgeschlossen ist, da Bewusstsein bereits präsent sein müsste, um festzustellen: „Ich bin soeben entstanden.“ und ebenfalls noch anwesend sein müsste, um zu bezeugen: „Ich bin soeben verschwunden.“

Davon abgesehen, dass fehlende Erinnerungen niemals als ausreichender Beweis für fehlendes Bewusstsein gelten können (zumal wir nachweislich in vielen Situationen voll bewusst waren, an die wir uns überhaupt nicht erinnern können), kann man zu der zweifelsfreien Erkenntnis gelangen, dass es schlicht und ergreifend unmöglich ist, wirklich bewusstlos zu sein…

Das Bewusstsein ist mehr als sein Inhalt – Bewusstlos?

Dass bei der Interpretation verschiedener körperlicher Zustände wie z. B. unter Vollnarkose oder bei einem Kreislaufkollaps sehr häufig Bewusstlosigkeit geschlussfolgert wird, lässt sich darauf zurückführen, dass wir nicht genügend zwischen dem Bewusstsein und den Wahrnehmungen differenzieren, d.h. wir setzen das Bewusstsein mit seinen Wahrnehmungen gleich und vergessen folglich, dass es vollkommen unabhängig von diesen ist.
Sicher ist hier eine zusätzliche Erläuterung anhand einer Analogie hilfreich:
Das Bewusstsein ist wie eine Leinwand und die Wahrnehmungen sind wie Bilder, die auf der Leinwand erscheinen. Ohne die Leinwand gibt es keine Bilder, aber die Leinwand ist selbstverständlich nicht auf Bilder angewiesen. Ohne Bewusstsein kann es keine Wahrnehmungen geben, aber auch ohne jede Wahrnehmung ist Bewusstsein präsent.

Wenn das Bewusstsein sich mit seinem eigenen Inhalt identifiziert, dann interpretiert es die Abwesenheit des Inhalts  als seine eigene Abwesenheit. Es glaubt, selbst das zu sein, was sich zwischenzeitlich aufgelöst hatte und schließlich wieder zurückgekehrt ist. Beim Inhalt des Bewusstseins handelt es sich natürlich um Gedanken, Gefühle, körperliche Empfindungen, Sinneswahrnehmungen usw. Da diese während der vermeintlichen Bewusstlosigkeit allesamt unauffindbar sind und weil die meisten Menschen in der Regel ihr Identitätsgefühl allein aus ihnen beziehen, glauben sie, dass auch das, was sie selbst sind, derweil vorübergehend nicht existiert hat. Dies beruht darauf, dass die Leinwand vergessen hat, dass sie mehr ist als die Summe aller Bilder, die auf ihr erscheinen.

Was ist Tiefschlaf? Bewusstlos?

Wir lassen also bedeutende Tatsachen außer Acht, wenn wir von einem „Verlust des Bewusstseins“ sprechen. Was wir dementsprechend benennen, ist beispielsweise der Tiefschlaf. Tatsächlich aber erweist sich der Tiefschlaf unter genauerer Überprüfung als reines Bewusstsein. Im traumlosen Zustand ist das Bewusstsein weiterhin präsent, auch wenn man sich später nicht mehr daran erinnern kann. Woran sollte man sich auch erinnern?
Es gab dort nichts (no-thing), keine spezifischen Wahrnehmungen, keine Objekte, nur reine Präsenz. Dieser Zustand ist frei von Gedanken, körperlichen Empfindungen, zeitlos und unpersönlich. Es herrscht Frieden. Deshalb wird der Tiefschlaf als erholsam empfunden. Hin und wieder wirkt es sich offenbar befreiend aus, wenn alle Projektionen wieder zurückgezogen werden.

An bestimmte Wahrnehmungen kann man sich später ggf. erinnern, aber wenn keinerlei Wahrnehmungen im Bewusstsein auftauchen, kann das Gedächtnis auf nichts Spezifisches zurückgreifen. Da der menschliche Verstand durch seine ausschließlich auf objektive Erfahrungen ausgerichtete Konditionierung mit der absoluten Leere nichts anfangen kann, entwickelt er eine Theorie, durch die er seine eigene Quelle verleugnet. All dies dient dem verzweifelten Versuch, einen Zustand im Nachhinein zu erfassen, den der Verstand konzeptuell nicht einordnen kann, weil er selbst währenddessen abwesend war.

Haben wir abends, wenn wir zu Bett gehen, Angst davor, in einen tiefen Schlaf zu fallen? Nein, im Gegenteil. Menschen beklagen sich nur dann darüber, schlecht geschlafen zu haben, wenn sie z. B. Albträume hatten oder falls sich ihr Schlaf irgendwie unruhig gestaltete. Wenn der Verstand überaktiv ist, kann er uns durch die sinnlose Wiederholung belastender Gedanken den Schlaf rauben. Das hat mit Tiefschlaf nichts zu tun. Tatsächlich bezieht sich ein unbefriedigender Schlaf stets auf die Abwesenheit des Tiefschlafs.
Außerdem gibt es beim Aufwachen durchaus einen Nachklang dieser objektlosen Erfahrung und das intuitive Wissen darum, dass wir im Tiefschlaf gleichmäßig gegenwärtig sind. Wir wissen im tiefsten Innern, dass das, was wir essentiell sind, nicht verschwinden und wieder auftauchen kann, sondern der Raum ist, in dem alles (every-thing) verschwindet und ggf. wieder auftaucht.

Meditation ist keine Handlung

Mit den bisherigen Ausführungen möchte der Autor jedoch nicht darauf hinaus, dass der Tiefschlaf ein auf Dauer erstrebenswerter Zustand ist. Es gibt keinen endgültigen Tiefschlaf. Irgendwann erscheinen wieder Wahrnehmungen. Zwangsläufig wechseln sich die Zustände ab. Gelegentlich bleibt die Leinwand leer, bis wieder neue Bilder in Erscheinung treten. Die Möglichkeiten der Wahrnehmungen sind von grenzenloser Vielfalt. Daher ist die leere Leinwand das Meer aller Möglichkeiten! Doch keines der Bilder bleibt auf ewig erhalten. Einzig die Leinwand, also das Bewusstsein selbst, ist ewig und unveränderlich.

Wenn man den Tiefschlaf als die Abwesenheit aller Bilder betrachtet – also als die völlig leere Leinwand -, so ist es noch nicht einmal folgerichtig, ihn als Zustand aufzufassen. Tatsächlich ist es der Tiefschlaf, der als Grundlage aller Zustände dient und ununterbrochen präsent ist. Es ist der Tiefschlaf, der die Form des sogenannten Traum- und Wachzustands annimmt – so wie sich die leere Leinwand für Bilder aller Art zur Verfügung stellt.

Es gibt interessante Parallelen zwischen dem Tiefschlaf und tiefer Meditation. Beide Verfassungen des Bewusstseins sind gewissermaßen neutral, weil keine Objekte gegenwärtig sind. Sowohl in tiefer Meditation als auch in tiefem, traumlosem Schlaf verweilen wir einfach als das, was wir unserer Essenz nach sind, jenseits der Persönlichkeit. Die größte Befreiung besteht darin, dass alle Aktivitäten des Verstandes ruhen.

Während das unpersönliche Gewahrsein ununterbrochen da ist, taucht die Person nur hin und wieder darin auf, und zwar wenn wir zu träumen beginnen oder aus dem Schlaf erwachen. Im Grunde verschwindet die Persönlichkeit jedes Mal vollständig, sobald wir mit dem Denken aufhören. Insofern ist die Person nicht der Handelnde, sondern in gewisser Weise selbst eine Handlung.

Wenn man die Begriffe Tiefschlaf und Meditation einfach als Synonyme für reines Bewusstsein versteht, lässt sich auch folgende Aussage von Rupert Spira problemlos nachvollziehen:
Aus dem Blickwinkel der Ignoranz ist die Person das, was wir sind, und Meditation ist etwas, was wir tun.
Aus dem Blickwinkel des Verstehens ist Meditation das, was wir sind, und die Person etwas, was wir tun.
Meditation ist nicht etwas, was wir tun. Ob wir es wissen oder nicht, Meditation ist, was wir sind.“ („Bewusstsein ist alles“; S. 70)

Nur Formen können sich auflösen

„Bewusstlos“ ist ein Wort, das nur im erkenntnislosen Zustand ausgesprochen werden kann. Wir sind immer bewusst. Das Bewusstsein kann gar nicht anders als durchgehend bewusst zu sein. Dies ist seine inhärente Natur.
Ohnehin stellt sich die Frage: Wohin sollte das Bewusstsein entschwinden?
Wenn sich eine Form aufgelöst hat, dann sagen wir, sie sei nicht mehr da. Tatsächlich ist sie aber nur in ihren formlosen Ursprungszustand zurückgekehrt. Materie gilt als maximal zerstört, wenn sie pulverisiert wurde. Das heißt doch, sie verliert lediglich ihre Form und wird formlos.
Reines Bewusstsein kann sich nicht auflösen. Denn es ist schon formlos und damit unverletzlich.

Die Freiheit liegt jenseits des Persönlichen – Es ist unmöglich bewusstlos zu sein

Vor einigen Jahren führte ich ein Gespräch mit einer jungen Frau, die mir von ihrer „Erfahrung mit Bewusstlosigkeit“ berichtete… Sie wählte folgende Worte:
„Ich hatte mal einen Kreislaufzusammenbruch und wurde ohnmächtig. Ich habe währenddessen einfach nicht mehr existiert. Das war eigentlich sehr schön!“ – welch erstaunliche Aussage!

Zunächst einmal scheint es sich um einen Widerspruch zu handeln: Wenn sie währenddessen nicht existiert hat, wie kann sie dann die Schlussfolgerung ziehen, dass der Zustand äußerst angenehm war? Um ihn derart zu empfinden, muss man per Definition bewusst sein, denn sämtliche Empfindungen setzen Bewusstsein voraus.

Außerdem ist es sicher lohnenswert, insbesondere die Aussage „Ich habe einfach nicht mehr existiert“ zu hinterfragen.
Welches „Ich“ ist es denn, das während der Ohnmacht nicht existent ist?
Es ist selbstverständlich das, worauf wir in der Regel verweisen, wenn wir das Wort „Ich“ aussprechen:
Unsere Persönlichkeit. Diese war also offenbar vorübergehend erloschen. Es gab keine Gedanken, die sich mit der persönlichen Vergangenheit und Zukunft beschäftigten („Ich und meine Geschichte“).

Mit dem Verschwinden der persönlichen Geschichte wurde auch den Sorgen und Problemen des Alltags, die bekanntlich stets damit einhergehen, die Grundlage entzogen. Daher auch die Feststellung: „Das war sehr schön!“ Das Bewusstsein löste sich (wie im Tiefschlaf) von jeglicher Identifikation und verweilte in seinem unmanifestierten Zustand.
Und dieser ist zutiefst friedvoll.

14.04. 2018
Simon Bartholomé

Autor

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Bartholome-SimonSimon Bartholomé,
verspürte schließlich das intensive Bedürfnis, die Tiefe des Lebens zu erforschen und gab sich diesem Impuls vollständig hin – was sich als die beste Entscheidung erwies, die er jemals getroffen habt.
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