Hochsensible Menschen als Seismografen der Gesellschaft

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hochsensible Menschen als Seismografen Seismograf erdeHochsensible Menschen als Seismografen der Gesellschaft

Interview  von Stefan Groeneveld von und für die Böhme-Zeitung (Südheide) mit Jutta Böttcher (Antworten kursiv) vom Institut Aurum Cordis.
Erschienen im Juli 2020

Inhaltsverzeichnis

Sie bezeichnen hochsensible Menschen als Seismografen der Gesellschaft. Was meinen Sie damit?

Wir wissen von hochsensiblen Menschen, dass sie mehr Informationen von innen und außen komplexer wahrnehmen und auch verarbeiten. Diese Art vernetzter Wahrnehmung führt dazu, dass sie andere Sinnzusammenhänge herstellen. Damit sind sie diejenigen, die Dinge tiefer durchdenken, empfinden und in ihren Konsequenzen erkennen. Sie sind also risikobewusst und empfinden klar und sehr früh die Grenzen einer insgesamt ungesunden Entwicklung. Das wiederum triggert in persönlich unterschiedlicher Intensität ihr hocherregbares Autonomes Nervensystem und versetzt sie in Stress. Der damit verbundene Leidensdruck erhöht sich noch durch das typisch hochsensible Spannungsfeld, das sich aus ihrer Fähigkeit zur gleichzeitigen Wahrnehmung dessen, was nicht stimmt und der sicheren Gewissheit wie Dinge nach einer gelungenen Veränderung besser funktionieren würden, ergibt. Dieser Pol ihrer Empfindungsfähigkeit teilt sich ihnen über tiefe Gefühle von stimmiger Verbundenheit mit. Je größer die Diskrepanz zwischen diesen beiden täglich empfundenen Polen ist, desto intensiver ist auch der tägliche Selbstverrat, wenn sie im Interesse ihre wirtschaftlichen Überlebens den in ihren Augen „ falschen Weg“ beruflich unterstützen müssen.
Sie spüren damit etwas, das die ganze Gesellschaft angeht, und brechen aufgrund dieses Leidensdruck nicht selten als erste in langfristigen Erkrankungen zusammen. Gesundung passiert für sie, wenn sie in einem tiefen inneren Prozess lernen, den in ihnen lebenden Veränderungsimpuls in ihrer beruflichen und privaten Lebensgestaltung konkret werden zu lassen.

Inwiefern sehen hochsensible Menschen die Welt anders?

Ihr Blick ist gekennzeichnet durch ein genaues Beobachten, ein tiefes Durchdenken und Durchfühlen von Situationen und damit werden auch Fragen hervorgerufen, gerade bei Kindern. Im Prinzip ist es eine differenzierte innere Situationsanalyse, die für denjenigen manchmal nicht einfach ist, weil er bestimmte Problemstellen sieht, die andere eben nicht sehen. Und da sind wir bei den Seismografen der Gesellschaft.

Wie erleben diese Seismografen die aktuelle Krise?

Krisensymptome waren im Prinzip schon vorher zu merken: Die Zeit vor Corona war die Zeit einer absoluten Überhitzung, jeder hat irgendwie das Gefühl gehabt: So schnell, wie ich laufen müsste, kann ich eigentlich gar nicht mehr laufen. Ich erschöpfe mich pausenlos. Viele hochsensible Menschen konnten dem nicht mehr standhalten, weil es ihrem Wertesystem, das sich aus diesem vernetzen Blick auf die Welt speist, überhaupt nicht entspricht. Aber um dazuzugehören, müssen sie mitlaufen. Diese Menschen brechen als erste zusammen, und sind in Gefahr, dass man mit ihnen in einer Gesellschaft, in der „höher, schneller, weiter“ alles ist, nichts anfangen kann. Und jetzt kommt diese Krise.

Er habe das Gefühl, die Welt erlebe einen kollektiven Burn-out, hat der Fußballtrainer Joachim Löw in diesem Zusammenhang gesagt. Wie können wir als Gesellschaft damit umgehen?

Ich kann sein Empfinden gut verstehen und es passt zu dem, was ich zur vorherigen Frage gesagt habe. Aber natürlich erzeugt die Angst vor einem „Systemzusammenbruch“, der am Horizont zu drohen scheint, eine ungeheure Verunsicherung. Das ist erst einmal ein Gefühl, für das wir einen kollektiven Umgang finden müssen. Die Auswirkungen zeigen sich schon. Jetzt beginnt die große Frage der Menschheit und eines jeden einzelnen Menschen: Welchem Sicherheitssystem vertraue ich mich an? Einige machen Sündenböcke aus, um sich selbst zu entlasten, andere rufen nach dem starken Mann, der es schon richten wird. Damit bleiben wir aber auf der ewig gleichen Ebene, die auch anderer Stelle keine Lösung hervorgebracht hat. Es wird aus meiner Sicht so etwas gebraucht, wie der Blick von oben auf das Spiel, um es besser zu verstehen. Dialogfähigkeit wäre dafür ein guter Anfang und sie setzt wie alles in dieser Krise ein Innehalten, wirkliches Hinschauen und Hinhören voraus.

Und ein hochsensibler Mensch? Wie reagiert er in dem Bedürfnis nach Sicherheit?

Der hochsensible Mensch erlebt diese Krise sehr oft erst einmal als Pause von dieser Wahnsinnshektik, die draußen ist. Neben all der berechtigten Angst um Gesundheit und wirtschaftliche Existenz bedeutet die Krise erst mal ein Unterbrechen, eine Pause, für die er dankbar ist. Sie gibt Raum, in dem er seiner oft unterdrückten Innenwelt auch erst einmal Raum geben kann – und zwar, ohne sich dafür legitimieren zu müssen!

Bedeutet die Krise sogar einen Fortschritt, weil der reizüberflutete Alltag zurücktritt?

Kann so sein, muss aber nicht. Insofern würde ich das so nicht unterschreiben wollen. Da ist ganz stark von der persönlichen Situation abhängig. Nehmen wir einmal an, zwei hochsensible Elternteile müssen ihren Job im Homeoffice und das Homeshcooling der Kinder unter einen Hut bringen. Die werden sich an den Kopf fassen. Aber der hochsensible Mensch nutzt die Situation eher zum Innehalten und zur Reflexion und findet so einen Schlüssel für sich im Umgang mit dieser Krise. Er erkennt dabei, dass im persönlichen Umgang nicht nur das krisenhafte, zerstörerische Erleben da ist, sondern auch neue Wege. Die Krise sorgt für einen Wechsel der Bezugssysteme und erzwingt ein Innehalten. Denkmuster werden infrage gestellt.

Das gilt doch für die ganze Gesellschaft.

Aber den hochsensiblen Menschen ist das regelrecht eingeschrieben: Ich kenne zwar das Ziel noch nicht genau, aber es führt mich ein Weg und dem folge ich erst einmal. Auch ohne genau zu wissen, wohin. Das ist eine Krisenkompetenz, die hochsensible Menschen auszeichnet gegenüber andern.

Können Sie das etwas konkretisieren?

Ich mach das mal an zwei Schlagworten fest: Resilienzforschung und Antifragilität. Auf der einen Seite fragt die Resilienzforschung: „Wie erlange ich innere Stabilität im Umgang mit Krisensituationen? Wie werde ich stärker darin, mit diesen umzugehen?“ Hochsensible Menschen hingegen setzen eher auf Antifragilität und entwickeln daraus ihre ihnen oft nicht zugetraute Krisenkompetenz.

Der Statistiker Nassim Nicholas Taleb hat diesen Begriff geprägt. Er bedeutet übersetzt Unzerbrechlichkeit und beschreibt die Fähigkeit, sich unter Unsicherheit zu verbessern.

Bei der Resilienz stärke ich mich dafür, dem Chaos standzuhalten. Wie die Eiche, die in ihrer ganzen Stärke auch schwerem Sturm widersteht. Aber irgendwann kommt er doch- der Sturm, der sie brechen lässt, obwohl sie als der Inbegriff von Stärke gilt. Im reinen Widerstehen liegt also keine Lösung, sondern unter Umständen sehr viel Anstrengung.
Die Antifragilität nimmt den Bambus zum Vorbild, der mit seiner inneren Elastizität die Fähigkeit hat zu schwingen. Übertragen ist das die Fähigkeit, Information aus der schwierigen Situation zu nehmen und daraus einen nächsten Schritt zu entwickeln. Und diesen in unbekanntes Gelände zu tun. Damit entsteht Wachstum!

Heißt das, hochsensible Menschen sind anpassungsfähiger?

Auch. Wenn die Eiche bricht, bin ich im höchsten Stressmodus. Kampf oder Flucht, sonst geht gar nichts mehr. Die Situation treibt mich an meine Grenzen. In der Antifragilität vertraue ich darauf, dass ich aus der Reflexion neue Ideen bekomme, um das unbekannte Gelände zu erforschen. Dabei besteht die Reflexion nicht allein aus dem Denken, sondern aus dem Wahrnehmen aller Signale- also auch dem berühmten Bauchgefühl oder anderer sog. somatischer Marker. Daraus ergibt sich so etwas wie ein Gespür von Stimmigkeit für einen nächsten Schritt, der sich mit dem Verstand allein unter Umständen gar nicht begründen lässt.

Der Impuls kommt aus tieferen Schichten, mit deren Umgang der hochsensible Mensch in der Regel vertraut ist. Unsere Gegenwart heißt jetzt gerade Krise. Sie schüttelt uns so, weil sie – wie der Zukunftsforscher Matthias Horx es gerade geschrieben hat- eine sog. „Tiefenkrise“ ist, die international alle Lebensbereiche erfasst. Sie ist nicht allein eine ökonomische oder politische Krise. Nein- sie erfasst alles und alle. Wäre sie es nicht, ließe sich viel einfacher Sachverstand aufrufen.

Wir bemerken aber gerade, dass auch die Experten wie z.B. die Virologen mit der Krise lernen müssen. Die Komplexität dieser Situation erlaubt es nicht, einfach wie bisher im Außen nach Lösungen zu suchen. Erfahrungswissen allein taugt dafür nicht und verführt, mehr vom Alten in die Zukunft zu tragen.
In eine solchen komplexen Situation nützt den hochsensiblen Menschen ihre Übung im Umgang mit ihrer ebenso komplexen Wahrnehmungsfähigkeit, um sich neuen Lösungen annähern zu können. Sie sind nicht immer sofort sprachlich gut zu begründen, weil sie eben aus einer Art von „ Felt Sense“ stammen und es braucht daher Mut, ihnen trotzdem zu folgen.

Was heißt das konkret auf die Coronakrise bezogen?

Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Vielleicht gelingt es leichter, wenn wir uns klar machen, dass die Krise zu einer Innenorientierung zwingt, die das natürliche innere Bezugssystem der hochsensiblen Menschen berührt.
Da gibt es bei aller unterschiedlichen Wahrnehmungsfähigkeit von Menschen endlich einen gemeinsamen Treffpunkt, von dem aus sich Dinge neu bewerten lassen. Jetzt haben die Hochsensiblen die Chance, nicht mehr „die Anderen“ zu sein, sondern jene Seismografen, deren Sicht- und Empfindungsweise auch richtungsweisend sein könnte. Es geht um Verlangsamung, um die wesentlichen Signale der neuen Situation auch mitzubekommen.

Und auch deshalb, weil sie ehe besonders unter der hektischen Ausrichtung unserer Gesellschaft leiden?

Wie eingangs erwähnt sind hochsensible Menschen, auch Kinder, so aufgestellt, dass sie eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung haben: Ich muss mich irgendwie anpassen, aber ich weiß zugleich, dass das so nicht richtig ist. Ich wüsste sogar, wie es richtig ist, aber ich konnte es bisher nicht wagen, mich damit zu zeigen.

Und da ist die Chance: Wenn nicht jetzt, wann dann? Gerade jetzt sind hochsensible Eigenschaften etwas, das gebraucht wird und ich kann einen auf Dauer krankmachenden Selbstverrat beenden. Das setzt allerdings voraus, dass hochsensible Menschen sich des Umgangs mit ihrer Wahrnehmung bewusst sind und sie steuern können- was manchmal einiges an Übung erfordert.

Dieser Ruf nach einem gesamtgesellschaftlichen Umdenken hat die Krise am Anfang begleitet. Inzwischen werden allerdings die Stimmen lauter, die in das alte Leben zurückwollen.

Die Gefahr, dass das Umdenken verpufft, besteht auf alle Fälle. Damit das nicht passiert, brauchen wir – glaube ich- eine Aufmerksamkeit für unser Staunen über das unerwartet Heile, das sich in der aktuellen, in vieler Hinsicht zerstörerischen Situation zeigt.
Ich persönlich staune z.B. gerade darüber, mit welcher unglaublichen Kraft sich die Natur in so kurzer Zeit Räume zurück erobert, die wir ihr als Menschen streitig gemacht haben. Wir verletzen sie so schwer- und dennoch ist da soviel Gesundheit. Das ist für mich wie ein Angebot, das wir nicht ausschlagen dürfen.

Die ökologische Frage stand vor Corona im Vordergrund und sie ist nicht weg. Sie ist immer noch da. Und vor diesem Hintergrund kommt das erzwungene Innehalten und plötzlich stellen die Menschen fest: Wow, der Himmel ist ja plötzlich klar. Tiere übernehmen wieder Naturräume, die ihnen abhanden gekommen sind, in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Delfine schwimmen in den Lagunen von Venedig. Da ist immer noch so viel Gesundheit in dieser Natur, die wir so quälen, dass sie die Kraft hat, sich in kürzester Zeit zurück zu melden. Sie tut das nicht allein mit Angst und Schrecken wie z.B,. in der Demonstration durch einen Wirbelsturm oder Vulkanausbraucht.

Wir dürfen auch auf das Schöne schauen, das sich plötzlich in all seiner Fülle wieder zu erkennen gibt.. Das ist doch schier unglaublich!
Oder denken Sie an die Kreativität, mit der Menschen in kürzester Zeit nach Wegen gesucht haben, um sich trotz der Beschränkungen auf Herzensebene begegnen zu können. Da fallen mir diese wunderbaren Balkonkonzerte aus Italien ein.

Aber ist die Gesellschaft bereit, die Konsequenzen aus dem erzwungenen Innehalten dauerhaft zu sichern?

Ganz offensichtlich haben wir Schätze zu verspielen, und diese Krise hat uns die Chance gegeben, die Schätze direkt vor unseren Augen zu sehen. Wenn wir sehen, was passiert, wenn wir uns zurückhalten, ist das für mich eine Aufforderung: Wie können wir weiter Zurückhaltung üben, ohne die Welt ganz zurückzudrehen?

Ich verstehe die Angst derer, die zurück in die Vergangenheit wollen. Aber wir können die Welt ja nicht zurückdrehen, und wir können nicht im Stillstand bleiben. Für diese Fragen braucht es eine andere Wahrnehmung, die eine andere Form von Arbeit und Leben möglich erscheinen lässt.

Was würde dann zum Beispiel deutlich?

Dass es Mut braucht, um offen zu bleiben für Veränderungen, die das wertvolle Ergebnis neuer Erfahrungen in der Krise sind und nicht einfach wieder zum Alten zurückkehren. Das kann sich auf ganz unterschiedliche Lebensbereiche beziehen. Z.B. habe ich gerade viele Eltern in der Beratung, die das bisherige Betreuungsmodell ihrer Kinder überdenken, weil sie bemerken, wieviel besser sich die Familie in dieser Zeit kennengelernt hat, wieviel Freude sie auch am wirklichen Erleben ihrer Kinder haben. Das ist für sie ein solcher Gewinn an Lebensfreude, dass sie ihn nicht wieder aufgeben möchten.

Oder denken Sie an die bereits sichtbar werdenden Möglichkeiten aus dem Homeoffice, sowohl für die Life- Work- Balance, für Familienleben, für eine verkehrstechnische Entlastung, für die Umwelt und vieles mehr. Wir können auch damit zu einem rechten Maß und Qualität an Kontakt zurückkehren, das wir vor der Krise verloren zu haben scheinen.

Jetzt gilt es, genau hinzuschauen, z.B. auf die Möglichkeiten, die sich aus Homeoffice, soweit sie nicht durch Überforderung konterkariert wird. Umgekehrt gilt daher, dass wir für all diese neuen Möglichkeiten gute Rahmenbedingungen entwickeln und bewusst machen müssen, wenn wir die Chance nicht verstreichen lassen wollen.

Wenn ich in einer Krise wie der aktuellen nur darauf schaue, dass alles so wird wie früher, verspiele ich die Chance aus dem Perspektivenwechsel, zu dem die Hochsensiblen schon zuvor- und allen voran die hochsensiblen Kinder- in ihrem Leidensdruck immer wieder aufgefordert haben. Weil es für die Bewältigung einer neuen Krise keine Erfahrungsmuster gibt, muss ich aus diesem Denken raus. Wenn wir vom reinen Verstandesdenken auf einen intuitiven Modus umschalten, dann geben wir neuen Ideen Raum. Und dieses Umschalten fällt hochsensiblen Menschen sehr viel leichter, weil sie ohnehin sehr nach innen orientiert sind.

Gleichwohl hat die Coronakrise auch gezeigt, dass der soziale Kontakt für die meisten Menschen unersetzlich ist.

Ja, das ist so. Aber wissen Sie, es kommen auch Kinder zu mir in die Beratung. Ein Achtjähriger hat kürzlich zu seiner Mutter gesagt: „Schule macht was mit mir, dass von mir nichts übrig bleibt.“ Über diese typische Form des Lernens kommt hochsensiblen Kindern vieles abhanden.

Auch hier zeigt sich, dass etwas, von dem wir überzeugt sind, nicht unbedingt dem Ziel dienen muss, von dem wir annehmen, dass es genau über diese einzig mögliche Handlungsweise erreicht werden würde. Also über welche Qualität von Kontakt sprechen wir, wenn wir mit Recht sagen, dass der soziale Kontakt unersetzlich ist. Denken Sie selbst in ihrem Leben zurück.

Wie lange ist es her, dass sie enge Freunde nicht mal eben angerufen, sondern ein gemütliches und ausführliches Telefonat mit ihnen geführt haben? Wann haben Sie jemandem im Alltag wirklich Zeit schenken können? Wann sind es die Fragen der Kinder, die sich nicht um Lernen und Schule drehen, die im Mittelpunkt des Gesprächskontaktes stehen?

Was wäre eine bessere Alternative?

In Bezug auf Schule? Eine gute Kombination aus Freilernen, Online-Lernen und persönlichem Kontakt wäre aus meiner Sicht eine echte Alternative. Doch diese Frage ist noch völlig ungeklärt. Unser Schulsystem ist komplett vergangenheitsorientiert aufgestellt und dient der persönlichen Entwicklung nur wenig. Dafür bräuchte es Räume, die Selbstvergessenheit einladen, im Spiel, im Lernen, d.h. die Möglichkeit, sich ganz zu vertiefen und sich selbst und seinen Fähigkeiten darin zu begegnen.

Ich kenne die Familie eines hochsensiblen, selbst bestimmt lernenden Jungen, der bei einem Wettbewerb der NASA gewonnen hat, bei dem es darum ging, ein Mondfahrzeug zu konstruieren. Der reist jetzt regelmäßig nach Houston und arbeitet an diesem Projekt weiter. Wenn wir Zukunftskompetenz entwickeln sollen, die nicht auf die Vergangenheit bezogen ist, sondern einen völlig offenen Raum anzapfen muss, dann müssen wir den Kindern diese Möglichkeit geben.
Das finde ich wichtig. Und die hochsensiblen Kinder fordern aufgrund ihrer Schwierigkeiten mit dem klassischen Schulsystem oft genau das ein. Sie sind für mich nicht Systemsprenger, sondern Systemveränderer.

Bedeutet das auch, dass hochsensible Kinder in der Regel von der Strukturauflösung der Regelschule durch die Krise eher positiv betroffen sind?

Ich weiß nicht, ob ich für alle sprechen kann, aber bei denen, mit denen ich Kontakt habe, ist das so, und ich vermute, für den größten Teil der hochsensiblen Kinder allgemein auch. Was aber natürlich nicht heißt, dass sie nicht auch ihre Freunde vermissen.

Das Aussetzen der sozialen Kontakte bleibt das große Problem der Krise.
Die Restriktionen der Krise sind schwer auszuhalten, keine Frage. Aber die zweite Perspektive ist der mögliche Gewinn aus dieser Krise. Machen wir uns doch nicht vor: In dieser Ich-überhol-mich-selber-Welt bleibt doch in der Regel nur Zeit für oberflächliche Kontakte. Das ist jetzt eine Chance.

Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Gesellschaft diese Chancen nutzt?

Der Blick in die Zukunft ist immer schwierig. Bezüglich der derzeitigen Situation habe ich große Fragezeichen. Ich glaube, wir sind auf einem so schmalen Grat, dass es wirklich auf das Prinzip des hundertsten Affen ankommt.

Es ist vielleicht der eine- eben im Bild gesprochen, der hundertste Affe, der durch seine Entscheidung, die Aufforderung zum Perspektivwechsel ernst zu nehmen, die Waagschale dazu bringt, sich zur richtigen Seite zu neigen. Wenn wir nur auf die kollektive Angst vor dem Zusammenbruch gucken, die überall da ist und vielfach ja auch durchaus verständlich ist, dann werden wir gesellschaftlich keine Chance haben.

Angst transportiert keinen Innovationsgeist, keine Kreativität oder Kraft zur Neugestaltung. Damit gelingt Aufbruch nicht. Wenn wir es aber schaffen, gemeinsam in der Angst innezuhalten und zu fragen: Wo spüre ich neue Wege, wie können wir anders miteinander umgehen und einander unterstützen, dann haben wir eine Chance. Aber ob das wirklich geschieht, das vermag ich nicht zu sagen.

31.10.2020
Jutta Böttcher
Autorin, Gründerin des deutschlandweit ersten Kompetenzzentrums für Hochsensibilität Aurum Cordis
www.aurum-cordis.de

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jutta-boettcher-aurum-cordisGründerin Jutta Böttcher

Autorin, Gründerin des deutschlandweit ersten Kompetenzzentrums für Hochsensibilität Aurum Cordis
Jutta Böttcher gründete im Jahre 2008 das erste Kompetenzzentrum für Hochsensibilität, Aurum Cordis, dessen Geschäftsführerin sie ist und in dem sie seither zugleich hochsensible Menschen begleitet.
Auf dem Weg zum heutigen Aurum Cordis begegneten ihr viele Menschen , die sie inspirierten und deren Impulse sie aufnahm und verwandelte – immer in einem fließenden Wachstumsprozess befindlich. Dabei wurde ihr immer deutlicher, wie wichtig es wäre, Hochsensibilität als Persönlichkeitsmerkmal nicht allein in seinen Auswirkungen auf individueller Ebene zu betrachten, sondern seine gesellschaftliche Bedeutung in Zeiten des Wandels und großer Umbrüche zu verstehen.
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Jutta Böttcher ist Herausgeberin und Mitautorin des ersten Fachbuchs Hochsensibiltät.
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1 Kommentar

  1. Liebe Jutta,

    ich möchte mich sehr herzlich für diesen wertvollen Artikel bedanken. Er war einer der hilfreichsten, die ich bislang über das Thema gelesen habe.

    Alles Liebe und einen schönen Abend!
    Varia

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