Mentale Etiketten – Die Bezeichnung ist nicht das Bezeichnete
Wenn Du klug bist und viel Lebenserfahrung hast, dann passiert Dir vielleicht derselbe Fauxpas, den ich neulich erlebt habe. Wir Klugen haben die Angewohnheit, anzunehmen, dass wir Dinge wüssten. Wir haben erlebt, dass unsere Ideen im Freundeskreis oder in der Familie dankend angenommen und erfolgreich umgesetzt wurden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir Diskussionen gewannen und Leute meinten: „Deine Idee ist genial!“
Was aber, wenn wir eben nicht immer recht haben?
Was, wenn unsere Gedanken und Meinungen ebenso unzutreffend sind wie alle anderen Meinungen und Gedanken, die irgendein Mensch während einer Inkarnation haben könnte? Gott sagte mir neulich wortwörtlich: „Du hast nicht immer recht.“
Das war mir schon klar, und ich glaubte, mir dessen bereits bewusst gewesen zu sein. Auf einmal fiel es mir jedoch wie Schuppen von den Augen. Ich begriff plötzlich, was mit dem höflichen Hinweis gemeint war, und entschuldigte mich bei zwei Menschen, von denen ich irrtümlicherweise angenommen hatte, ihre Perspektive sei weniger weise als meine.
Kennst Du diese Situationen, wenn Du denkst, dass irgendjemand etwas auf eine Art tut, die Du für ineffizient hältst? Denkst Du auch manchmal, dass etwas auf andere Weise viel besser oder einfacher funktionieren könnte? Und nimmst Du dann innerlich an, Du wärst hinsichtlich dieser Erkenntnis etwas näher an der Wahrheit als die andere Person? Nun, lass mich Dir eines sagen:
Niemand von uns ist näher an der Wahrheit als irgendjemand anders.
Jeder von uns sieht einen Bruchteil der Wahrheit. Jeder von uns erfüllt einen Teil des Seelenplanes, um zum Wohle des großen Ganzen seine oder ihre jeweilige Rolle erfolgreich zu spielen. Wir dürfen den anderen vertrauen, denn auch in ihnen ist Gottes Weisheit. Fällen wir in Gedanken Urteile über jemanden wie bspw. „Person XY weiß weniger als ich“, dann sind diese Urteile nichts anderes als mentale Etiketten, die wir auf diesen Menschen kleben.
Wann immer wir ein mentales Etikett auf jemanden kleben, können wir diesen nicht mehr so erkennen, wie er wirklich ist. Wir sehen dann nur noch unser eigenes Etikett und wenden uns angewidert ab, weil wir den Menschen mit dem Etikett verwechseln. Menschen sind nicht gut, schlecht, weise oder dumm. Diese Adjektive sind Urteile, die dem menschlichen Verstand entspringen. Diesen Punkt halte ich für essenziell, denn wenn wir beginnen, seine Bedeutung zu erahnen, wird sich unser ganzes Leben schlagartig leichter anfühlen.
Viele Perspektiven
Es gibt ein Gleichnis von drei blinden Weisen, die zum ersten Mal einem Elefanten begegnen. Der eine Weise ertastet den Rüssel des Elefanten und glaubt, der Elefant habe die Eigenschaften eines Rüssels. Der zweite Weise fühlt den Rumpf des Tieres und nimmt an, ein Elefant weise die Eigenschaften groß und massiv auf. Der dritte Weise bekommt ein Ohr des Elefanten zu fassen und wundert sich, warum der Elefant sich aus seiner Perspektive völlig anders anfühlt, als es seine Kollegen beschreiben. Woran liegt das?
Wenn das blinde Ertasten des Elefanten unserer Alltagsperspektive auf die Realität, Gott und das Leben entspricht, dann gleichen wir den blinden Weisen aus der Erzählung. Jeder von uns nimmt einen Teil von etwas wahr und schlussfolgert daraus, wie wohl der komplette Elefant sei. Hat jemand eine andere Sichtweise, nimmt jemand einen anderen Teil des Elefanten wahr als wir selbst, dann erklären wir uns das damit, dass „der Ärmste spirituell noch nicht so weit entwickelt wie wir selbst“ sei. Oder wir kleben in Gedanken ein Etikett namens „dumm“ auf denjenigen. Nach einer Weile vergessen wir, dass wir das unsichtbare Zettelchen mit diesem Wort auf denjenigen geklebt haben.
Wann immer wir erneut mit der Person zu tun haben, sehen wir den mentalen Zettel, der zwischen uns und der Person steht, uns die Sicht auf die Person verstellt, und glauben irgendwann, die Person sei dieser Zettel. Wir nehmen an, unser Gegenüber sei tatsächlich dumm.
Eine Erdbeere wird nicht zu Kot, nur weil Du „Hundehaufen“ drauf schreibst.
Wenn ich Dir eine Erdbeere gebe und da ein Etikett mit der Aufschrift „Hundekot“ draufklebe, hältst Du dann eine Erdbeere in der Hand oder einen Hundehaufen? Wenn jemand Dir sagt, Deine Lieblingsmusik klinge furchtbar, würdest Du diese Musik dann auch furchtbar finden oder würdest Du nur grinsen und sie Dir weiterhin genussvoll anhören? Wenn ich Dir sage, jemand, den Du liebst, sei dumm, würdest Du mir dann glauben? Oder würdest Du wissen, dass ich nur ein mentales Etikett auf diesen Menschen geklebt habe, das nichts, aber auch gar nichts darüber aussagt, wie dieser Mensch wirklich ist?
Warum also kleben wir noch Etiketten auf Menschen oder Sachen? Warum verwechseln wir noch Gedanken und Meinungen – sowohl unsere eigenen als auch die anderer – mit der Realität?
Ein Mensch wird nicht zum Dummkopf, nur weil Du ihn als dumm abstempelst.
Die Geschichte mit den drei blinden Weisen und dem Elefanten geht noch weiter. Da die Philosophen aus dem Gleichnis über große Weisheit verfügen, kommen sie auf die Idee, ihre Perspektiven zu tauschen. Derjenige, der zuvor das Ohr des Elefanten gespürt hat, tastet nun nach dem Rumpf des Tieres. Der nächste Weise fühlt jetzt das Ohr usw. Irgendwann wird den drei Weisen klar, dass ihr Eindruck von dem, was sie gerne erkennen möchten, sich jedes Mal ändert, sobald sie ihren Standpunkt ändern. Durch den Perspektivwechsel lernen sie, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Standpunkt zu verstehen.
Einen anderen Menschen verstehen zu können, heißt nicht, dass wir dessen Meinung mehr Bedeutung beimessen als unserer eigenen. Es bedeutet auch nicht, dass wir uns von unserer eigenen Meinung verabschieden oder unser Fähnchen nach dem Wind richten müssen. Es bedeutet lediglich, dass wir erkennen, dass aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet andere Bilder und andere logische Schlussfolgerungen möglich sind als aus unserem eigenen Blickwinkel.
Ein Perspektivwechsel kann Dir dabei helfen, zu erkennen, warum jemand so denkt, fühlt und handelt, wie er oder sie es in einer bestimmten Situation tut. Die Übung des Perspektivwechsels eignet sich gut dafür, eigenen Irrtümern auf die Schliche zu kommen. Du beginnst, zu merken, wann und wo Du mentale Etiketten auf Deine Mitmenschen geklebt hast, und stellst immer öfter staunend fest, wie viel großartiger, wunderbarer und weiser all diese Leute in Wirklichkeit sind. Aus Deiner Perspektive betrachtet kann ihr Verhalten trotzdem falsch sein. Doch Du ahnst jetzt, dass etwas, das für Dich falsch ist und niemals stimmen wird, für jemand anderen in einer anderen Situation durchaus die einzig richtige Wahl sein könnte.
Welche Hypothese stimmt denn nun?
Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich Dir diese Frage beantworten kann, oder? Willst Du von mir hören, wie ein Bestandteil des Elefanten aus meiner Perspektive aussieht? Oder willst Du den ganzen Elefanten so erkennen, wie er wirklich ist?
Es gibt so viele verschiedene Meinungen und Perspektiven, wie es Menschen gibt. Gedanken, die wir uns über etwas machen, sind immer nur Hypothesen darüber, wie etwas sein könnte. Sobald wir etwas in eine mentale Schublade einordnen möchten, beschränken wir uns schon selbst. Wir können beim Einsortieren nur zwischen den Schubladen wählen, die es schon gibt, oder müssen eine neue anfertigen, die ein neues Etikett hat. Wenn Du damit beginnst, Gott oder die Realität aus verschiedenen menschlichen Blickwinkeln zu betrachten, dann fällt Dir vielleicht auf, dass weder das eine noch das andere in irgendeine Deiner gedanklichen Schubladen passt. Könnte an Gottes Ratschlag, dass wir uns kein Bild von ihm machen sollten, womöglich etwas dran sein?
Ob wir Bilder malen oder nicht, spielt keine Rolle – solange wir nicht annehmen, das Bild sei das Abgebildete. Ein Gedanke ist nicht das, was zu denken versucht wird. Ein Modell oder eine Hypothese ist nicht die Realität. Eine Bezeichnung ist nicht das Bezeichnete. Und für so vieles gibt es in der menschlichen Sprache keine passenden Begriffe, weil das, was wir aus unseren menschlichen Inkarnationen kennen, nur ein schwacher Abglanz dessen ist, was eigentlich ist.
Vom Denken zur reinen Wahrnehmung gelangen
Was trennt uns eigentlich von der reinen, unverfälschten Wahrnehmung? Was hindert uns im Alltag daran, die Dinge so zu erkennen, wie sie wirklich sind? Warum schätzen wir so viele Leute falsch ein? Warum nehme ich mir heraus, zu behaupten, dass wir alles und jeden falsch einschätzen? Warum vermute ich, dass keine Bezeichnung jemals das Bezeichnete eins zu eins darstellen kann und dass ein Portrait von jemandem nicht der gemalte Mensch selbst ist?
Mit Worten erklären kann ich Dir das nicht, denn Wahrheit kann weder gesagt noch gedacht werden. Sie kann nur w-a-h-r-genommen werden. Wie gelingt Dir das?
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Immer wenn es uns gelingt, das Urteilen vollständig sein zu lassen, wird unser Blick klar, sodass reines Gewahrsein geschehen kann. Dieser Schritt ist ganz leicht, aber wir tun uns schwer damit, ihn tatsächlich zu gehen. Um diesen Erwachensschritt in Richtung reine Wahrnehmung gehen zu können, ist es nötig, unser Weltbild – wie auch immer dieses aussehen mag – gänzlich loszulassen. Du darfst es behalten, benötigst aber die Fähigkeit, es dann und wann beiseite zu legen, damit Du ohne den Filter Deiner eigenen (Vor-)Urteile klar zu schauen vermagst.
16.05.2021
Liebe Grüße von
Varia Antares
Germanistin, Dozentin, Autorin
Varia Antares
Die Germanistin, Dozentin und Autorin schreibt über Spiritualität und deren Umsetzung im Alltag. Sie möchte Mut machen, Menschen motivieren und begeistern.
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