Missverstandene Objektivität – die Krise der Wissenschaft
Die Subjekt-Objekt-Spaltung von Dr. phil. Sonja Ulrike Klug
Die Philosophin Sonja Klug beschreibt die sogenannte Subjekt-Objekt-Spaltung, die sich wie ein roter Faden durch die gesamte abendländische Geistesgeschichte zieht. Dabei erfolgte eine Überbewertung der Objektivität und eine Herabsetzung des Subjektiven, die zuletzt in den heute grassierenden Materialismus mündete. Als Ausweg tritt sie für das gnothi seauton der frühen Griechen ein: Erkenne Dich selbst.
Zu den Grunderfahrungen unseres In-der-Welt-Seins gehört die Subjekt-Objekt-Spaltung: Jeder Mensch sieht sich selbst als Subjekt und steht einer Welt gegenüber, die er als Objekt erlebt. Der Beitrag zeigt im ersten Teil auf, wie diese universale Trennung zu verstehen ist und woher sie rührt; es wird ein Bezug zur Philosophie und zu den Veden hergestellt. Der zweite Teil beschäftigt sich am Beispiel der Gehirnforschung mit dem Verständnis des Objektivitätsbegriffs in der Wissenschaft, seiner Herkunft und seinen Folgen. Deutlich wird, dass Objektivität in der Naturwissenschaft von jeher falsch verstanden wurde und dass dies weitreichende negative Folgen hat, die insbesondere in der heutigen Zeit deutlich werden: z.B. in der mangelnden Verantwortung der Forscher für ihre Forschungen und in wissenschaftlichen Monstrositäten wie der Atombombe oder der Genmanipulation.
Subjekt und Objekt
Subjektiv ist alles, was der Mensch als zu sich selbst gehörend empfindet: seinen Körper, sein Ich, seine Gefühle bzw. sein »Innenleben« – eben seine »Innenwelt«. Objektiv (lat. obicere: »entgegenwerfen«) ist demgegenüber alles, was der Mensch als ihm »entgegengeworfen«, als unterschieden von sich selbst erlebt, also die sog. »Außenwelt«. In diesem Sinne ist alles, was »nicht Ich« ist, objektiv, also jeder Gegenstand wie auch jeder andere Mensch, da ich ihn als von mir verschieden erlebe. Die Begriffe »subjektiv« und »objektiv« sind völlig wertfrei zu verstehen, denn sie beziehen sich auf eine Grundbefindlichkeit des Menschseins. »Objektiv sein« ist also weder etwas Positives, noch etwas Negatives, sondern es weist schlicht auf die Grenze zwischen mir und dem »Rest der Welt« hin.
So einleuchtend und alltäglich die Trennung zwischen Subjekt und Objekt auch ist, so erstaunlich ist sie dennoch. Halten wir einen Moment philosophierend inne: Die Subjekt-Objekt-Spaltung bedeutet letztlich, dass es scheinbar zwei Welten gibt: die eine, die ich selbst gestalte und bin, und die andere, die von mir unabhängig ist, die ich oft nicht beeinflussen, dann aber doch wieder in meinem Sinne lenken kann, die mich mit Neuem, Unbekanntem immer wieder überrascht, die ich manchmal als mir völlig fremd, dann wieder als ganz und gar vertraut erlebe, der ich mich zuweilen ohnmächtig ausgeliefert sehe, dann aber wieder vollkommen beherrsche, die ich manchmal als bedrohlich empfinde, aber ebenso als freundlich erlebe. Diese merkwürdige Trennung zwischen Subjekt und Objekt ist nicht nur dem Menschen eigen, sondern jedem Lebewesen. Jeder empfindet sich selbst als Subjekt und alles übrige als Objekt; jeder empfindet eine zweigeteilte Welt, obwohl es nur eine Welt geben kann.
Es wird klar: Subjekt und Objekt sind eng aufeinander bezogen;
das eine kann nicht ohne das andere sein. Subjekt und Objekt gehören zusammen wie zwei Seiten einer Münze: ohne Subjekt kein Objekt und umgekehrt:
In der Zusammenfassung eines Gedankens, der sich bereits bei den Philosophen J.G. Fichte und bei F.W.J. Schelling findet, drückt Manfred Frank die enge Verbundenheit zwischen Subjekt und Objekt folgendermaßen aus: »Alle Gegenständlichkeit ist, was sie ist, nur durch den Bezug auf ein Subjekt, dessen Objekt sie ist: wer das Subjekt – als Quelle alles Erkennens – wegnimmt, raubt damit dem Objekt die Möglichkeit, sich zur Erscheinung zu bringen.« (Frank 1985, S. 73).
Die Subjekt-Objekt-Spaltung war von jeher ein Gegenstand der abendländischen Philosophie: Von Platon, über I. Kant bis zu A.N. Whitehead und K. Jaspers haben sich die Philosophen mit dieser merkwürdigen Trennung auseinandergesetzt, haben Hypothesen dazu entwickelt (z.B. über das Bewusstsein als die Subjekt-Seite), haben versucht, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt präzise zu bestimmen und zu definieren, aber doch immer wieder erkannt, dass sie nicht klar zu ziehen ist (z.B. darum nicht, weil ich als Subjekt auch mir selbst zum Objekt werden kann, wenn ich beispielsweise rückblickend auf mich selbst und meine früheren Gefühle zurückschaue).
Die Herkunft der Subjekt-Objekt-Spaltung
Woher rührt diese merkwürdige Spaltung? Über ihren Ursprung findet sich wenig in der abendländischen Philosophie; er wird häufig als bekannt vorausgesetzt. Eher findet sich etwas darüber in mystischen Schriften und in alten Mythen. Die Ursache der Trennung zwischen Subjekt und Objekt kann letztlich nur in mystischen Worten ausgedrückt werden: Im Anfang war die Welt eins, und es gab nur Gott. Dann erschuf Gott die Seelen und schüttete sie aus. Nach ihrer Ausschüttung erkannten sich die Seelen als getrennt von Gott und als getrennt voneinander – wodurch die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt entstand. Jetzt suchen die Seelen ihren Weg zurück zu Gott und in die Einheit.
Der Mythos von der Ausschüttung der Seelen und ihr Erleben als getrennt voneinander findet sich übrigens auch in der modernen Naturwissenschaft wieder als sog. »Symmetriebruch«. (Es ist eine interessante Frage, ob Gott nur Seelen oder auch noch etwas anderes – beispielsweise leblose Materie – ausgeschüttet hat. Wenn Gott nur Seelen ausgeschüttet hat, bedeutet dies, dass letztlich alles lebt und lebendig ist, dass es nichts Totes gibt, dass auch Materie nicht tot ist, sondern eine Art von Subjekt-(Seelen-)Empfinden hat, selbst wenn es sich stark vom menschlichen Subjekt-Empfinden unterscheidet. Ich persönlich glaube, dass nur Seelen ausgeschüttet wurden, kann dies hier aber nicht weiter erörtern.)
Rishi, devata und chhandas in den Veden
Die Subjekt-Objekt-Spaltung ist nicht nur Gegenstand der abendländischen Philosophie, sondern auch historisch viel älterer Schriften, beispielsweise der Veden. Die Konzeption der Trennung in den Veden ist besonders interessant, weil sie konsequenter als im abendländischen Denken durchgehalten wird; sie soll daher hier kurz angeschnitten werden. Dem Subjekt wird in der vedischen Tradition der Sankskrit-Begriff rishi zugeordnet und dem Objekt der Begriff chhandas. Zusätzlich gibt es noch ein Drittes, devata, und das ist der Prozess, der zwischen Subjekt und Objekt abläuft; in der abendländischen Tradition hat man diesen Prozess so gut wie gar nicht beachtet und ihm wohl daher keinen eigenen Begriff verliehen.
Bemerkenswerterweise wird der Prozess der Trennung zwischen beiden bereits in den ersten beiden Buchstaben des Rig-Veda ausgedrückt: Das erste Wort im Rig-Veda heisst agnim (zu deutsch: »Feuer«), die ersten beiden Buchstaben – bzw. treffender gesagt: Phoneme (Laute) – sind a und g. Das a ist in allen Sprachen der Welt der Laut, der die grösste Mundöffnung verlangt. Das g hingegen ist ein Verschlusslaut, den man nur mit fast geschlossenem Mund aussprechen kann. Demzufolge stellt man sich den Prozess der Subjekt-Objekt-Trennung folgendermaßen vor: Das unmanifestierte reine Selbst (Atman) oder Subjekt, das für die Fülle steht, kollabiert (Symmetriebruch!) zu einem Punktwert, dem Objekt. Der Kollaps entsteht z.B. im Prozess der Wahrnehmung, des Wissens und in jeder Handlung allgemein.
Der Wissende (Subjekt, rishi), der Wissensprozess (devata) und das Gewusste (Objekt, chhandas) sind, so wird in den Veden immer vorausgesetzt, eines: Der Wissende ist das Gewusste, das Subjekt ist das Objekt – (eine Erkenntnis, die auch Schelling schon hatte); alle drei bilden eine Samhita, eine Gesamtheit, eine Einheit.
Es ist eine Publikation erschienen (Nader 1994), die darlegt, dass sich die Dreiteilung in Subjekt, Prozess und Objekt durch alle vedischen Werke hindurchzieht sowie auch durch den gesamten menschlichen Organismus mit all seinen physiologischen Gegebenheiten. Von den sechs indischen Darshanas, den sechs großen philosophischen Systemen, der indischen Literatur gehören beispielsweise Nyaya und Vedanta zum Rishi-Aspekt, Vaisheshika und Karma-Mimamsa zu Devata-Aspekt und Samkhya sowie Yoga zum Chhandas-Aspekt.
Während der Rig-Veda alle drei Aspekte in sich vereinigt, weil er der Ursprung aller vedischen Werke ist, verhält es sich mit den drei anderen großen vedischen Werken folgendermaßen: der Sama-Veda bezieht sich auf den Rishi-Aspekt, der Yajur-Veda auf den Devata-Aspekt und der Atharva-Veda auf den Chhandas-Aspekt (vgl. dazu im einzelnen Nader 1994, S. 20ff.). – Bemerkenswert erscheint mir die Stringenz, mit der hier gedacht und vedisch konzipiert wurde – ganz im Gegensatz zum abendländischen Denken, wo die Subjekt-Objekt-Spaltung keineswegs immer durchgehalten, ja leider sogar von etlichen Philosophen, besonders den Nicht-Metaphysikern, gar nicht verstanden wurde. Und damit kommen wir zum zweiten Teil, der Bedeutung der Objektivität in der Wissenschaft und ihrem Missverständnis.
Die Bedeutung der Objektivität in der Wissenschaft
Es galt von jeher als ein ganz besonderes Merkmal der abendländischen Wissenschaft, »objektiv« sein zu wollen. Stellvertretend für unzählige andere Wissenschaftler sei dazu eine Äusserung Albert Einsteins zitiert: »Der Glaube an eine vom wahrnehmenden Subjekt unabhängige Aussenwelt liegt aller Naturwissenschaft zugrunde.« (Einstein o.J., S. 186)
Nach allen bisherigen Darlegungen sollte klar sein, dass hier bereits ein Missverständnis vorliegt: Eine vom Subjekt unabhängige Aussenwelt kann es gar nicht geben, wenn sich Subjekt und Objekt gegenseitig bedingen! Es ist immer ein Subjekt, dass eine Aussenwelt wahrnimmt / konstruiert / erschafft. In der Einsteinschen Äusserung schwingen Wertungen des Subjektiven und Objektiven mit, die ursprünglich nicht darin liegen. Wie ich anfangs ausführte, sind die beiden Begriffe völlig wertfrei zu verstehen, da sie eine Grundbefindlichkeit des In-der-Welt-Seins ausdrücken. Wenn jedoch die Wissenschaft um jeden Preis »objektiv« sein will, so drückt sie damit eine Wertung aus: Das Subjektive wird nämlich als »willkürlich, beliebig, glaubensabhängig« negativ bewertet, während das Objektive als »der Wahrheit entsprechend oder nahe« und damit positiv angesehen wird – nur diese Bewertung verleiht der angestrebten Objektivität der Wissenschaft überhaupt einen Sinn.
Doch wir können der Subjekt-Objekt-Spaltung nicht entrinnen, auch Einstein nicht. Was ihn schon verrät, ist die Sprache. (Die rishi-devata-chhandas-Trennung spiegelt sich in jedem Satz mit der Teilung in Subjekt-Verb-Objekt wider): Es ist nur ein Glaube, dass die Aussenwelt vom Subjekt unabhängig ist, also letztlich ein subjektives Moment, denn was wäre subjektiver als Glaube? Wie mir scheint, ist es aber ein Irrglaube.
Karl Popper – oder die »subjektunabhängige Erkenntnis«
Einer der Philosophen des 20. Jahrhunderts, die die (Natur-)Wissenschaft methodologisch sehr stark beeinflusst haben, ist Karl Popper. In seiner philosophischen Anschauung der Subjekt-Objekt-Spaltung finden wir daher Ansichten wieder, die viele Naturwissenschaftler vertreten. Popper hat ein Drei-Welten-Modell entwickelt:
- Welt 1 ist die Welt der physikalischen Gegenstände oder physikalischen Zustände;
- Welt 2 ist die Welt der Bewusstseinszustände oder geistigen Zustände, auch Dispositionen zum Handeln,
- Welt 3 ist die Welt der objektiven Gedankeninhalte, inbesondere der wissenschaftlichen Gedanken und der theoretischen Systeme (vgl. Popper 1987, S. 132f.)
Objektivität liegt also für Popper ganz ähnlich wie für Einstein in wissenschaftlichen Theorien, die er von subjektiven psychischen Zuständen unterscheidet. Kritiker haben Popper zu Recht vorgeworfen, dass wissenschaftliche Theorien nicht in diesem Sinne objektiv sein können, da sie ja von Subjekten entwickelt werden und damit auch den Charakter dessen an sich haben, was Popper als »Bewusstseinszustände« bezeichnet und zur Welt 2 rechnet. Popper versucht, diesen Einwand mit einem Gedankenexperiment zu entkräften. Angenommen, »alle unsere Maschinen und Werkzeuge werden zerstört, ebenso unser ganzes subjektives Wissen einschliesslich unserer subjektiven Kenntnis der Maschinen und Werkzeuge und ihres Gebrauchs. Doch die Bibliotheken überleben und unsere Fähigkeit, aus ihnen zu lernen. Es ist klar, dass unsere Welt nach vielen Widrigkeiten wieder in Gang kommen kann.« (Popper 1987, S. 134).
Das Gedankenexperiment
ist alles andere als die Entkräftung des Einwands gegen Poppers Teilung in Welt 2 und 3. Vielmehr zeigt es, dass Popper die Subjekt-Objekt-Spaltung – wie so viele andere nicht-metaphysische Philosophen auch – vollkommen missverstanden hat. Das Experiment ist philosophisch schief, denn:
- Wenn das subjektive Wissen vollkommen zerstört ist, kann dies nur heissen, dass entweder alle Menschen tot sind oder an kompletter geistiger Umnachtung bzw. Verwirrung leiden, weil sie sich selbst nicht mehr als Subjekte wahrnehmen können. Ergo sind sie auch nicht mehr fähig, Bibliotheken zu benutzen und alles neu aufzubauen!
- Was ist Bibliotheken enthalten ist, ist nichts anderes als subjektives Wissen, denn es wurde von Subjekten (Menschen) erworben und in Büchern festgehalten. Wenn also die Bibliotheken erhalten bleiben, ist auch das subjektive Wissen wenigstens zum Teil erhalten geblieben!
Popper will um jeden Preis das Subjekt vom Objekt lösen
und merkt nicht, dass dies unmöglich ist, deshalb behauptet er weiter: »… wissenschaftliche Erkenntnis ist gar nicht die Erkenntnis im gewöhnlichen Sinne von ‘ich erkenne’. Diese gehört zu dem, was ich die ‘Welt 2’ nenne, zur Welt der Subjekte; die wissenschaftliche Erkenntnis gehört zur Welt 3, der Welt der objektiven Theorien, Probleme und Argumente.« Und dann: »Erkenntnis im objektiven Sinne ist Erkenntnis ohne einen Erkennenden: Es ist Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt.« (Popper 1987, S. 235).
Dies schlägt dem Fass den Boden aus: Wie soll eine Erkenntnis ohne Subjekt überhaupt möglich sein? Das ginge wohl nur, wenn sie nach Art des Heiligen Geistes »frei-schwebend im luftleeren Raum« herumgeisterte! Es sind aber immer Menschen (= Subjekte), die Erkenntnisse haben und nicht ein mysteriöses Vakuum. Auch bei Popper hat man den Eindruck, dass unterschwellig Wertungen des Subjektiven und Objektiven mitschwingen: Offensichtlich gilt ihm das Subjekt – zumindest im wissenschaftlichen Bereich – als minderwertig, das Objekt hingegen als höherrangig. Anders ist seine Ablehnung des Subjektiven nicht verständlich.
Poppers Theorie ist völlig unbrauchbar. Auch die Einteilung in drei Welten taugt nicht, weil die Subjekt-Objekt-Spaltung quer durch jede seiner drei Welten hindurchläuft. Leider hat Popper auf die Wissenschaft in diesem Jahrhundert einen großen Einfluss ausgeübt; sein Drei-Welten-Modell hat er u.a. in dem Werk »Das Ich und sein Gehirn« (verfasst zusammen mit John C. Eccles) auf die Physiologie des Gehirns angewandt. Der große Einfluss Poppers ist erklärbar, wenn wir uns die Geschichte der Naturwissenschaft ansehen; Popper vertritt nämlich Ansichten, die keineswegs neu sind, sondern sich in gleicher oder ähnlicher Form bereits in der Frühzeit der Naturwissenschaft finden.
Subjekt und Objekt in der Geschichte der Naturwissenschaft
Der Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft liegt im 16./17. Jahrhundert; die maßgebenden Wissenschaftler und Philosophen jener Zeit waren Francis Bacon, Galileo Galilei, Johannes Kepler und René Descartes. Bereits diese Namen deuten an, dass hier der Grundstein für die moderne Erkenntnis mit ihren Theorien gelegt wurde (vgl. Fischer 1996, S. 83ff.). Schon Bacon vertrat die Ansicht, die Wissenschaft müsse ausschließlich in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts gestellt werden. Deshalb nannte man ihn auch den »Philosophen der Industrialisierung« und warf ihm vor, dass er mit seiner einseitigen Festlegung jeden Sinn – und damit ein subjektives Element –, aus der Wissenschaft vertrieben habe; er habe die Wissenschaft »steril« gemacht. (Nebenbei bemerkt, entwickelte Bacon bereits die für die Naturwissenschaft maßgebliche induktive Methode, die später Popper als seine eigene Entwicklung dargestellt hat – vgl. Fischer 1996, S. 90f.)
Doch die strikte Trennung zwischen Subjekt und Objekt vollendete erst Descartes
mit seiner Unterscheidung zwischen res cogitans (der denkenden Substanz oder Seele = dem Subjekt) und res extensa (der ausgedehnten Substanz oder Materie / Körper = Objekt). Descartes beeinflusste nicht nur maßgeblich die Methodologie der Wissenschaften, sondern er veränderte sie auch durch seine Vorgabe, alle animalischen und menschlichen Funktionen auf maschinenähnliche Wirkungen und Abläufe zu reduzieren (vgl. Fischer 1996, S. 147) – eine Ansicht, die wir heute in der modernen Gehirnforschung wiederfinden, wie noch zu zeigen ist.
Es ist so, als ob das subjektive Element schrittweise immer weiter aus der Naturwissenschaft vertrieben wurde, wobei sicher auch die Loslösung von den Dogmen der Kirche eine Rolle spielte: Die Wissenschaft wollte sich als vermeintlich objektiv von der Theologie mit ihren subjektiven Ansichten über die Natur und das Universum lösen. Man denke etwa an Galileis Auseinandersetzung mit der Kirche über das heliozentrische Weltbild.
Zwar wurde der Grundstein für die Objektivität der Wissenschaft
schon im 16./17. Jhrt. gelegt, aber bis zum 19. Jahrhundert ist, wie die Untersuchung des »Historischen Bewusstseins in der Naturwissenschaft« von Dietrich von Engelhardt zeigt, eine wachsende Verdrängung erkennbar. Diese ist u.a. daran ablesbar, dass die Naturwissenschaftler von Jahrhundert zu Jahrhundert immer weniger bereit waren, die Geschichte der Wissenschaften wie auch philosophische Gedankengänge (also das Wissen von der Natur als die subjektive Seite) zu reflektieren, und sich statt dessen ganz auf die Objekt-Seite, nämlich die Geschichte der Natur selbst konzentrieren; ein Höhepunkt dieser Entwicklung ist Darwins Evolutionstheorie. Das historische Bewusstsein reduziert sich immer mehr auf die Kenntnis der Gegenwart (vgl. v. Engelhardt 1979. S. 179) – eine bedenkliche Engführung, die sich bis heute fortsetzt.
Eine Atempause bildet lediglich die romantische Naturforschung um 1800, allerdings nur in Deutschland, mit Repräsentanten wie F.J.W. Schelling, G.W.F. Hegel und J.W. von Goethe, die versucht haben, in völlig verschiedenartigen Theorien die Subjekt- und die Objekt-Seite der Wissenschaft in Einklang zu bringen. Doch wenige Jahrzehnte später kann schon Justus von Liebig allen Ernstes solche Forscher als »ins Irrenhaus gehörig« bezeichnen (vgl. v. Engelhardt 1979, S. 177). Und Rudolf Virchow schreibt, entscheidende Aufgabe sei es, sich immer mehr »in das objective Fahrwasser« zu bringen, sich immer mehr zu »entsubjectiviren« (v. Engelhardt 1979, S. 212).
Missverstandene Objektivität heute – am Beispiel der Gehirnforschung
In der Tradition der einseitigen Entwicklung der Naturwissenschaft steht z.B. die moderne Gehirnforschung. So schreibt beispielsweise Gerhard Roth: »Die Wirklichkeit ist nicht ein Konstrukt meines Ich, denn ich bin selbst ein Konstrukt. Vielmehr geht ihre Konstruktion durch das Gehirn nach Prinzipien vor sich, die teils phylogenetisch, teils frühontogenetisch entstanden sind und ansonsten den Erfahrungen des Gehirns mit seiner Umwelt entstammen. Diese Prinzipien sind meinem Willen nicht unterworfen. Vielmehr bin ich ihnen unterworfen.« (Roth 1997, S. 330). Mit anderen Worten: Ich, das Subjekt, bin völlig abhängig von meinem Gehirn, dem Objekt, und dem, was es konstruiert; ich bin meinem eigenen Gehirn machtlos und willenlos ausgeliefert. Dies ist natürlich barer Unsinn, steht aber ganz im Einklang mit dem cartesischen Denken! Roth selbst zieht diese Schlussfolgerung aus seinen empirischen Forschungen des Gehirns.
Es zeigt sich hier sehr deutlich das Übergewicht der »Objektivität«, was zwangsläufig die Subjektivität degradiert. Ich und Gehirn stehen selbstverständlich als Subjekt- und Objekt-Seite gleichwertig nebeneinander. Die Äußerung Roths wie auch die folgende von Francis Crick zeigen sehr deutlich, wie leicht die missverstandene Objektivität in einen puren Materialismus abgleitet, weil es eben nur die objektive = materielle Seite ist, die die Wissenschaft »empirisch« erfassen kann – jedenfalls in der sehr eingeengten Weise, in der »Empirie« heute allgemein verstanden wird.
Francis Crick stellt die Hypothese auf: »’Sie’, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen« (Crick 1994, S. 17). Mit anderen Worten: Die Seele ist nichts weiter als eine Ansammlung von »Chemie«.
Man hat den Eindruck, dass die Wissenschaft immer dümmer wird, verglichen mit früheren Jahrhunderten. Von der Gehirnforschung jedenfalls ist derzeit keine Erhellung der Subjekt-Seite bzw. seelischer Gegebenheiten zu erwarten (vgl. auch Biron 1997).
Die Folgen der missverstandenen Objektivität
Dass die zunehmende Engführung des naturwissenschaftlichen Denkens langfristig nicht ohne Folgen bleiben kann und geblieben ist, ist klar. Die bedenklichen Folgen sehe ich – außer in den daraus resultierenden theoretischen Verzerrungen – auf zwei Seiten: einerseits bei den Wissenschaftlern selbst, andererseits bei denen, die dieser Wissenschaft ausgeliefert sind. Die haarsträubende Vorstellung vom Menschen als Maschine oder »chemischem Konglomerat« zieht die Aufmerksamkeit immer weiter von der Persönlichkeit, vom Subjekt, ab und damit auch von einer möglichen Selbsterkenntnis. Denn das Subjekt ist ja scheinbar unbedeutend, machtlos, unmaßgeblich, minderwertig; es ist dem Objekt »willenlos« unterworfen, wie Roth feststellte. Ein dem Objekt unterworfenes Subjekt muss sich nicht mehr um seine Selbsterkenntnis bemühen. Damit verringert sich das Vertrauen in die Kraft des subjektiven Geistes (vgl. White 1948, S. 163). Für die Wissenschaftler selbst bedeutet dies: Sie scheinen als Subjekte nicht verantwortlich für das zu sein, was sie erforschen oder erforscht haben.
Die Frage der Verantwortung der Wissenschaft
stellte sich erstmals mit der Atombombe, als man deren schreckliche Folgen für die Menschen (= Subjekte) erkannte. Seitdem ist die Frage immer wieder aufgeworfen, aber niemals beantwortet worden; sie ist z.B. ein zentrales Thema der Philosophie Carl Friedrich von Weizsäckers. Hätte Einstein an der Entwicklung der Atombombe mitwirken können, wenn er überzeugt gewesen wäre, dass die Außenwelt vom Subjekt abhängig ist? Wohl nicht! Dass sie nicht unabhängig vom Subjekt ist, bemerkte er wohl erst, als die vorher nicht bedachten Subjekte so entsetzlich darunter litten; dann allerdings bereitete ihm dies zeitlebens Gewissensbisse.
Inzwischen gebiert die moderne Wissenschaft immer mehr und immer schrecklichere Monster,
ohne die Verantwortung dafür zu übernehmen. »Natürlich werden wir Menschen klonen« titelte jüngst »bild der wissenschaft« (Juni 1997) provozierend und fügte hinzu: »Die Front der Ablehnung bröckelt«. Alles technisch Machbare wird auch gemacht – ohne Rücksicht auf das Subjekt. Der Mensch spielt keine Rolle, er ist ohnehin minderwertig nach der herrschenden Anschauung. Und die Wissenschaftler sind fein heraus aus ihrer Verantwortung, denn sie sind ja auch nur Subjekte und können sich gegen eine objektive Wissenschaftswelt nicht zur Wehr setzen; indem sie das Subjekt degradierten, haben sie auch sich selbst für machtlos und willenlos erklärt! Somit sind sie nicht nur Täter, sondern auch Opfer der von ihnen geschaffenen Monstrositäten.
Auf der anderen Seite stehen die Menschen, die dieser Wissenschaft und der darauf aufbauenden Technik ausgeliefert sind. Die Wissenschaft – besonders die Gehirnforschung, auf der heute aller Augen ruhen in der vergeblichen Erwartung, etwas über die Seele zu erfahren – liefert diesen Menschen (uns, den Bürgern) ein völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Das ist umso bedenklicher, als die Wissenschaft in den Augen vieler als »Autorität« gilt. Viele Menschen können gar nicht durchschauen, wenn die Wissenschaft ihnen baren Unsinn auftischt. Wenn man ihnen »verkauft«, dass das Subjekt minderwertig ist, dann glauben sie es (Wissenschafts-aberglaube) – und ziehen daraus die falsche Schlussfolgerung, dass sie sich als Subjekte gegen die Monster der modernen Wissenschaft, gegen Umweltzerstörung, Genmanipulation und Klonen von Menschen nicht wehren können. Dass sie sich nicht wehren, dass wir uns nicht wehren, ist sicher im Interesse gewisser Mächte auf diesem Globus, aber keineswegs im Interesse des gefährdeten Planeten und der Menschheit insgesamt!
Was können wir tun?
Es ist üblich, am Ende eines kritischen Beitrags wie diesem Empfehlungen zu geben, wie das Übel beseitigt oder abgestellt werden kann. Und meistens werden dann »Maßnahmen« empfohlen, die zu verabschieden seien; es wird geraten, diese oder jene Institution zu gründen, die dieses oder jenes vorantreiben soll. Ich möchte von solchen Empfehlungen Abstand nehmen.
Von »Maßnahmen« halte ich gar nichts, vor allem nicht, wenn sie »von oben« kommen. Weder die Politik noch irgendeine Institution kann den Wissenschaftlern klares Denken beibringen. Und eine vernünftige Philosophie, die Subjekt und Objekt als gleichwertig anerkennt, kann man nicht »per ordre de mufti« durchsetzen; so etwas entartet früher oder später immer in einer Ideologie (einer geschlossenen Weltanschauung) – und deren hatten und haben wir auf diesem Planeten schon genug.
Was also ist zu tun? Was wir wirklich tun können, steht bereits geschrieben auf einer sehr alten griechischen Inschrift des Apollotempels in Delphi. In schönen griechischen Lettern ist dort zu lesen: gnwqi seauton (gnothi seauton), zu Deutsch: »Erkenne dich selbst«. Dies ist für alle Zeit Aufgabe und Appell an jeden Menschen, auch jeden Wissenschaftler.
Kehren wir noch einmal philosophierend zum Anfang zurück:
Subjekt und Objekt gehören zusammen wie zwei Seiten einer Münze. Das bedeutet auch: Das Objekt lässt sich nur so weit erkennen, als das Subjekt erkannt ist – oder anders: Die Welt kann ich nur so weit erkennen und verstehen, als ich mich selbst erkannt und verstanden habe. In dem Maße, als ich die Subjekt-Seite verzerrt wahrnehme, ist für mich auch die Objekt-Seite verzerrt. (Derzeit ist diese Verzerrung in der Wissenschaft offenbar ganz immens.)
Von alters her wusste die Philosophie – die vedische genauso wie die abendländische –, dass wir die Außenwelt als einen Spiegel unserer Innenwelt deuten müssen und dass genau darin der Schüssel zur Selbsterkenntnis liegt. Die Außenwelt, das Objekt, hält uns in jedem Augenblick den Spiegel vor, sagt uns etwas über unseren momentanen Seelenzustand. In den Veden wird dies ausgedrückt in dem Satz: »Tat tvam asi« – »das bist du«. In der Maya-Kultur wird dasselbe ausgedrückt in der Aussage: »Ich bin ein anderes Du-Selbst«. Diese Einsicht kommt dem Menschen zuweilen in Augenblicken der Selbsterkenntnis, wenn er sieht, dass er sich in einem Objekt der Außenwelt wiedererkennt.
In solchen Momenten transzendentaler Selbsterkenntnis ist uns spontan klar,
dass Subjekt und Objekt eins sind, dass der Wissende zugleich das Gewusste ist und dass die Trennung beider eine Täuschung, eine Illusion (Maya), ist. Selbsterkenntnis können wir u.a. üben, indem wir lernen, die Objekt-Seite, die Außenwelt, symbolisch zu deuten – nämlich immer als etwas, das wir selbst als Subjekte auf eine gewisse Weise erschaffen haben und für das wir darum auch verantwortlich sind.
Literatur:
- Biron, Georg: »Die geistlose Suche nach der Seele.« In: Esotera, 2/1997, S. 16-21.
- Crick, Francis: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins. München, Zürich 1994.
- Einstein, Albert: Mein Weltbild. Gütersloh o.J.
- Engelhardt, Dietrich von: Historisches Bewusstsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus. Freiburg, München 1979.
- Fischer, Ernst Peter: Aristoteles & Co. Eine kleine Geschichte der Wissenschaft in Porträts von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. München 1996.
- Frank, Manfred: Eine Einführung in Schellings Philosophie. Frankfurt a.M. 1985.
- Nader, Tony: Menschlicher Körper – Ausdruck des Veda und der Vedischen Literatur. Vlodrop (Niederlande) 1994.
- Popper, Karl: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Gütersloh 1987.
- Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a.M. 1997.
- White, Lancelot Law: Die nächste Stufe der Menschheit. Zürich, ca. 1948.
18.10.2019
Dr. Sonja Ulrike Klug
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Über die Autorin dieses Artikels
Dr. phil. Sonja Ulrike Klug
ist Unternehmenspublizistin, Strategieberaterin und vielfache Autorin. Sie unterstützt Selbständige und Unternehmen mit einem Full-Service bei der Planung und Realisierung von Buchprojekten. Dr. Klug ist selbst Autorin von rund 160 Artikeln und 20 Büchern zu Themen der Wirtschafts- und Kulturgeschichte wie auch der Unternehmenskommunikation.
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