Wer ernährt die Welt wirklich?

getreide sonne barley field

getreide sonne barley fieldWer ernährt die Welt wirklich?

Leseprobe aus dem Buch “Wer ernährt die Welt wirklich?” – Das Versagen der Agrarindustrie und die notwendige Wende zur Agrarökologie
von Vandana Shiva

Wir sind mit einer tiefen und sich verschärfenden Krise konfrontiert, die in der Art und Weise begründet ist, wie wir unsere Nahrungsmittel produzieren, verarbeiten und verteilen. Das Wohlergehen des Planeten, die Gesundheit der Menschen und die Stabilität der Gesellschaft sind durch eine globalisierte industrielle Landwirtschaft, von Gier und Profitdenken getrieben, ernsthaft bedroht. Ein ineffizientes, verschwenderisches und nicht nachhaltiges Modell der Nahrungsmittelproduktion treibt den Planeten, seine Ökosysteme und seine vielfältigen Arten an den Rand der Vernichtung. Nahrungsmittel, deren Hauptzweck eigentlich darin besteht, für Nahrung und Gesundheit zu sorgen, sind heute das größte Gesundheitsproblem der Welt: Fast eine Milliarde Menschen leiden an Hunger und Unterernährung, zwei Milliarden leiden an Krankheiten wie Fettleibigkeit und Diabetes, und unzählige andere leiden an Krankheiten, einschließlich Krebs, die durch die Gifte in unserer Nahrung verursacht werden.

Anstatt Grundlage unserer Ernährung zu sein, wurde Nahrung zu einer Ware: zu etwas, mit dem man spekulieren und mit dem man Profit machen kann. Dies führt zu steigenden Lebensmittelpreisen und schafft überall soziale Instabilität. Seit 2007 gab es 51 Lebensmittelaufstände in 37 Ländern, darunter Tunesien, Südafrika, Kamerun und Indien.2 Das Ernährungssystem ist in jedem der Aspekte, auf die es ankommt, schwer gestört: Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Frieden.
Heute ist eine Alternative zu diesem System zu einem Imperativ für unser Überleben geworden. Beginnen wir also mit der Frage: »Wer ernährt die Welt?«

Der große Paradigmenkrieg

Ernährung und Landwirtschaft sind zu Schauplätzen großer Paradigmenkriege geworden. Auf der Basis dieser beiden gegensätzlichen Paradigmen wird jeweils eine bestimmte Art von Wissen, Wirtschaft, Kultur und natürlich auch von Landwirtschaft umgesetzt.

Jedes dieser Paradigmen behauptet von sich, die Welt zu ernähren; doch in Wirklichkeit tut dies nur ein Paradigma.
Das vorherrschende Paradigma ist ein industrielles, mechanisiertes Paradigma, das zum Zusammenbruch unserer Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme geführt hat. Diese Krise ist kein Zufall; sie ist in den Bauplan des Systems selbst eingebaut. Das Herzstück dieses Paradigmas ist das Gesetz der Ausbeutung, das die Welt als eine Maschine und die Natur als tote Materie betrachtet.

Dieses Paradigma sieht den Menschen als von der Natur getrennt und jeden Teil der Natur als vom Übrigen trennbar an: den Samen vom Boden, den Boden von der Pflanze, die Pflanze von der Nahrung und die Nahrung von unserem Körper. Das industrielle Paradigma beruht darauf, Mensch und Natur als bloße »Inputs« in einem Produktionssystem zu sehen. Die Produktivität der Erde und ihrer Menschen wird durch ein fein gesponnenes gedankliches Konstrukt unsichtbar gemacht, und Kapital und Konzerne werden als Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaft dargestellt.

Das Paradigma der industriellen Landwirtschaft wurzelt im Krieg:

Sie verwendet buchstäblich dieselben Chemikalien, um die Natur zu zerstören, die einst zur Ausrottung von Menschen eingesetzt wurden. Das Paradigma beruht auf der Annahme, dass jedes Insekt und jede Pflanze als Feind anzusehen ist, der mit Giften ausgerottet werden muss, und sucht ständig nach neuen und stärkeren Gewaltinstrumenten; dazu gehören Pestizide, Herbizide und gentechnisch veränderte Pflanzen, die Pestizide erzeugen. Während die Technologien der Gewalt immer raffinierter werden, schrumpft das Wissen über Ökosysteme und Biodiversität. Je tiefer die Ignoranz gegenüber der reichen biologischen Vielfalt und den ökologischen Prozessen des Planeten geht, desto größer wird die Arroganz der zerstörerischen Konzerne, die behaupten, Schöpfer zu sein. Das Leben wird neu definiert: als Erfindung derjenigen, deren einzige Fähigkeit darin besteht, es zu vergiften und zu töten.

Werkzeuge, die mit dem Ziel zu beherrschen erfunden wurden und dem Gesetz der Ausbeutung und Dominanz unterliegen, schaden der Gesundheit der Menschen und der Umwelt. Diese Werkzeuge sind oft Gifte, die als »Agrochemikalien« vermarktet werden, und man sagt uns, dass Landwirtschaft ohne sie heute nicht mehr möglich sei. In Wirklichkeit prägen die Konzerne, die diese Chemikalien herstellen, das Paradigma der Möglichkeiten. Sie definieren, was Wissenschaft ist, wie ein effizientes Nahrungsmittelproduktionssystem aussieht und wo die Grenzen von Forschung und Handel verlaufen sollten. Übertragen auf die Landwirtschaft und das Ernährungssystem bringt ein Paradigma, das in der Gewalt des Krieges und einer militarisierten Denkweise wurzelt, den Krieg auf unsere Felder, auf unseren Teller und in unseren Körper.

„Zuerst sagten sie, Chemikalien werden uns ernähren. Dann sagten sie, GVOs werden uns ernähren. Die Menschen und der Planet wurden vergiftet. Jetzt wird uns gesagt, dass Big Data uns ernähren wird.“
Vandana Shiva

Die ökologische Landwirtschaft

Aber es gibt noch ein weiteres, ein im Wiedererstehen begriffenes Paradigma: eines, das die Kontinuität mit althergebrachten Formen der Zusammenarbeit mit der Natur aufrechterhält und dem Kreislaufgesetz von Ausgleich und Rückführung folgt. Nach diesem Gesetz geben und nehmen alle Lebewesen wechselseitig. Dieses ökologische Paradigma der Landwirtschaft beruht auf dem Leben und dem Eingebunden-Sein. Und es ist auf die Erde und die Kleinbauern, insbesondere auf die Bäuerinnen, ausgerichtet. Es erkennt das Potential fruchtbringenden Saatguts und fruchtbarer Böden zur Ernährung der Menschheit und der verschiedenen Arten, mit denen wir alle als Erdenbewohner verwandt sind.

In diesem Paradigma besteht die Rolle der menschlichen Gemeinschaft darin, als Mitschöpfer und Mitproduzenten mit Mutter Erde zusammenzuwirken. In diesem Paradigma ist Wissen kein Besitz; vielmehr erwächst Wissen aus der Praxis einer Landwirtschaft, bei der wir alle am Netz des Lebens teilhaben. In der ökologischen Landwirtschaft werden die Kreisläufe der Natur intensiviert und diversifiziert, um mehr und bessere Lebensmittel zu produzieren und dabei weniger Ressourcen zu verbrauchen. Im ökologischen Landbau werden die Abfälle der Pflanzen zu Nahrung für Nutztiere und Bodenorganismen. Bei Einhaltung des Kreislaufgesetzes gibt es keinen Abfall; alles wird wiederverwertet.

Ökologische Ernährungssysteme sind regionale Ernährungssysteme,

die anbauen, was sie können, und nur wirkliche Überschüsse exportieren; es wird importiert, was vor Ort nicht angebaut werden kann.

Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit ergeben sich auf natürliche Weise aus dem Kreislauf der Rückführung und aus der Lokalisierung der Nahrungsmittelproduktion. Die Ressourcen der Erde, die für die Aufrechterhaltung des Lebens unabdingbar sind, wie die biologische Vielfalt und das Wasser, werden als »Gemeingut« verwaltet oder als gemeinschaftlich genutzte Räume. Das ökologische Paradigma kultiviert Mitgefühl für alle Lebewesen, einschließlich der Menschen, und stellt sicher, dass niemandem sein oder ihr Anteil an der Nahrung vorenthalten wird.

Heute steht das industrielle Paradigma dem ökologischen Paradigma diametral gegenüber, und das Gesetz der Ausbeutung steht dem Gesetz des Ausgleichs gegenüber. Dies sind Paradigmenkriege der Wirtschaft, der Kultur und des Wissens, und sie bilden die Grundlage der Nahrungsmittelkrise, mit der wir es heute zu tun haben.

So vieles was mit unserer Nahrung zu tun hat, wissen wir heute nicht einmal.

Wussten Sie zum Beispiel, dass:

nur 10% des weltweit angebauten Mais und Soja auf unseren Tellern landet, und der Rest für Biodiesel und Futter für die Massentierhaltung verwendet wird?
75% der weltweiten Ressourcen (Wasser, Böden) durch die Agrarindustrie verbraucht werden, die jedoch nur knapp 30%(!) der globalen Nahrungsmittel erzeugt?
 hingegen mindestens 70% der Nahrungsmittel von Kleinbauern und -bäuerinnen angebaut werden?

In ihrem Buch „Wer ernährt die Welt wirklich?“, das bereits 2014 geschrieben wurde, geht Vandana Shiva ebenjener Frage auf den Grund. Die bekannte Aktivistin und Wissenschaftlerin zeigt Lösungen auf und entlarvt schonungslos die lebensfeindlichen Strategien der Mächtigen, die uns mit wohlklingenden Namen verkauft werden sollen.


Über die Autorin Vandana Shiva

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Vandana Shiva ©Drona Chetri

Vandana Shiva (* 5. November 1952 in Dehradun) ist eine indische Wissenschaftlerin, soziale Aktivistin und Globalisierungskritikerin.

Für ihr Engagement in den Bereichen Naturschutz, biologische Vielfalt, Frauenrechte und Nachhaltigkeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Ihr wurde 1993 der Right Livelihood Award – inoffiziell auch Alternativer Nobelpreis genannt – verliehen, weil sie die Themen Frauen und Ökologie in den Mittelpunkt des Diskurses um moderne Entwicklungspolitik gestellt hat.

Sie ist unter anderem Mitglied der Internationalen Organisation für eine Partizipatorische Gesellschaft (IOPS). Des weiteren ist sie Gründungsmitglied beim World Future Council.
Quelle: Amazon


Video: “Wer ernährt die Welt wirklich?” – Vandana Shiva


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Buchtipp:Vandana Shiva-cover-wer-ernaehrt-die-welt

“Wer ernährt die Welt wirklich?”
Das Versagen der Agrarindustrie und die notwendige Wende zur Agrarökologie
von Vandana Shiva

In dieser Abrechnung der Wissenschaftlerin und Aktivistin Vandana Shiva wird eindrucksvoll dargelegt, wie die Agrargroßindustrie mit Chemie und Gentechnik den Planeten plündert, die Lebenswelt zerstört und unsere Gesundheit untergräbt. Und sie zeigt faktenreich und sachkundig auf, wer wirklich unsere Nahrungsgrundlage sicherstellt und wie wir den Hunger besiegen und unsere Nahrungssicherheit wieder herstellen können.

Zum Buch

20.11.2021
Vandana Shiva
indische Wissenschaftlerin, soziale Aktivistin und Globalisierungskritikerin

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