Wie Wahrnehmung uns Freiheit und Selbstliebe lehren kann
Wir glauben, wir nehmen die Welt über unsere Sinne so wahr, wie sie ist. Was ich sehe, sehe ich und was ich rieche, rieche ich, oder? Jein. Die sogenannte Wahrheit, die wir über unsere Sinne erfassen, ist die individuelle und oft verzerrte Version dessen, was unser Gehirn aus den Reizen, die es filtert, zusammenbastelt. Aber mithilfe von Achtsamkeit können wir diese Filter und insbesondere uns selbst kennenlernen und innere Freiheit erfahren. Selbsterkenntnis über Sinneserfahrungen führt zu einem spirituellen Mindset, also zu menschlich so wichtigen und wunderbaren Eigenschaften wie Gelassenheit, Toleranz, Selbstliebe, Bewusstsein und Mitgefühl.
Wie Wahrnehmung Freiheit und Selbstliebe lehrt – Sechs Sinne prägen unseren Alltag
Unsere Sinne leiten uns durchs Leben indem wir hören, sehen, fühlen, schmecken und riechen. Sinn Nummer sechs, die Propriozeption oder auch Eigenwahrnehmung informiert uns darüber, ob wir beispielsweise gerade auf dem Kopf stehen oder unser Herz schneller schlägt. Wahrnehmung bestimmt also in jeder Sekunde unser Leben, da wir auf die Reize, die uns in der Umwelt begegnen, seien es Geräusche wie Stimmen, Berührungen von anderen Menschen, oder auf das, was wir gerade beim Frühstück schmecken, reagieren.
All das tun wir in jeder Sekunde unseres Lebens, die Sinne haben nie Pause, auch nicht im Schlaf. Dabei haben die Sinne nicht dauernd gleich viele Aufgaben, sie wechseln sich kollegial ab in ihrer Reizdeutungsaufgabe. Manch ein Sinn wird allerdings überbeansprucht, in unserer Gesellschaft ist dies besonders der Sehsinn. Wir blicken den ganzen Tag auf Bildschirme – Smartphones, Computer, Fernseher, darüberhinaus sind Werbung und soziale Medien auf optische Wirkung ausgerichtet.
Ein Nervensystem im Alarmzustand
Obwohl die sinnliche Wahrnehmung unser Leben bestimmt und der Verlust von Tastsinn oder Propriozeption sogar lebensbedrohlich sein können, machen wir uns kaum Gedanken, darüber, wie sie funktioniert. So wie wir atmen und unser Herz schlägt, ohne, dass wir dies aktiv einschalten müssten, ist unsere Wahrnehmung immer „on“. Umso spannender ist es, einen tieferen Blick in unser Nervensystem zu werfen, denn dort eröffnen sich überraschende Perspektiven.
Um zur These von oben zurückzukommen: „Wahr“nehmung ist im Grunde das falsche Wort für die Verarbeitung all der Reize, die in unserer lauten und überfrachteten Welt im Sekundentakt auf uns einstürmen. Evolutionär gesehen sind unsere Gehirne nicht für diese Kakophonie gebaut, denn ihr Design befindet sich funktional noch in der Steinzeit. Unsere Vorfahren mussten natürlich genauso ihre Sinne benutzen, wenn sie auf der Jagd waren oder Gefahr liefen, selbst zur Beute zu werden. Während sie sich anpirschten, bimmelte jedoch weder ein tragbares Gerät in ihrer Hosentasche, noch kam ein Motorrad um die Ecke gebraust. Es gab keine Lichtverschmutzung, die Barney Geröllheimer vom Schlafen abhielt oder Wilma Feuerstein scrollte sich nicht durchs Internet, um einen neuen Staubsauger zu shoppen.
Was die moderne Reizüberflutung in unseren steinzeitlichen Nervensystemen anrichtet, ist in unzähligen Studien bewiesen worden und du kannst es vielleicht schon selbst an dir feststellen: gesundheitliche Probleme von Übergewicht und Schlafstörungen bis hin zu Bluthochdruck, mentale Auswirkungen von Konzentrationsstörungen und negativen Gedankenspiralen bis hin zu Depressionen, die Liste ist beliebig lang.
Wie funktioniert Wahrnehmung?
Aber wie nehmen wir eigentlich wahr? Es gibt ein paar neurologische Fakten, die eine objektive Wahrnehmung tatsächlich verhindern. Eine Tatsache ergibt sich aus der oben geschilderten Reizüberflutung, die unser Gehirn überfordert. Da es schlau und findig ist, hat unser hochentwickeltes Hirn eine Lösung, um sich vor dem Kollaps zu schützen: die selektive Wahrnehmung.
So gibt es eine hochinteressante Instanz in unserem Nervensystem, die filtert, welche Reize überhaupt auf dem sogenannten Kortex landen dürfen. Diese Instanz ist der Thalamus, ein Gebiet im Zwischenhirn, das in der Neurowissenschaft sehr sinnig auch „Tor zum Bewusstsein“ genannt wird. Der Kortex, die Gehirnrinde wiederum ist der Ort, auf dem die selektierten Reize ankommen. Dort gibt es jeweils einen Bereich für jeden Sinn –Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Fühlen und die Propriozeption.
Das Tor zum Bewusstsein
Doch wie filtert der Thalamus, was zum Kortex durchdringen darf und was nicht? Das ist die faszinierende und bedeutsame Frage, die aber relativ einfach zu beantworten ist. Da unser Gehirn zunächst auf Effektivität und geringen Energieverbrauch ausgelegt ist, schnappt sich der gute Thalamus alles, was er schon kennt. Cola – schon getrunken, gut, abhaken, darf durch, Emil berührt sanft meinen Arm, ist mein Angetrauter, der darf das, weiter, Krieger 2 im Yoga, schon gemacht, kein Problem, das nächste Asana, bitte.
Das heißt: Alles, was wir schon kennen, wird vom Türsteher Thalamus durchgewinkt. Vielleicht kannst du dir nun besser vorstellen, warum wir Menschen so fabulöse Gewohnheitstiere sind? Es strengt uns schlicht weniger an. Aber wir verengen dadurch auch unsere Wahrnehmung: Der alte Spruch vom Bauern, der nur futtert, was er schon kennt, beschreibt einen engstirnigen und Neuem gegenüber nicht besonders aufgeschlossenen Menschen.
Neuroplastizität forever
Aber: Langeweile tut unserem Gehirn nicht gut, denn es will lernen und sich weiterentwickeln und bringt dafür eine andere wunderbare Eigenschaft mit: die Neuroplastizität. Dies bedeutet, dass unser Gehirn bis zu dem Moment, in dem es aufhört zu existieren, also bis zum Tode in der Lage ist, neue neuronale Verbindungen zu knüpfen.
Neuronale Verbindungen bilden sich, wenn wir Neues lernen, und zwar alles, von Bewegungen wie dem Heben einer Tasse oder komplexen Tanzschritten über Fremdsprachen bis hin zu mathematischen Gleichungen. Dies allerdings ist freiwillig – nur wer motiviert und willens ist, zu lernen, wird dies auch tun. Oder der Bauer bleiben, der nur mampft, was er schon immer zur Vesper auf seinem Teller gefunden hat. Kann ja auch ein Lebensziel sein, keine Wertung an dieser Stelle.
Zwischen Reiz und Reaktion – ist Meditation
Der Weg zur achtsamen Wahrnehmung beginnt hier: Indem wir uns zunächst darüber bewusst werden, dass wir enorm wirksame Filter im Hirne haben und gleichzeitig wissen, dass wir immer lernen können und dürfen. Die achtsame Übung ist, die eigenen Filter zu erkennen und über die Grenzen der eigenen Wahrnehmung (und Gewohnheiten) hinauszuwachsen.
Mithilfe der Meditation kannst du deinen Achtsamkeitsmuskel trainieren, denn Meditation ist nicht mehr und nicht weniger als wertfreie Selbstbeobachtung. Es gibt einen schönes Zitat, das gern dem Psychoanalytiker Viktor Frankl zugesprochen wird (sein Ursprung ist unklar): „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ Diesen Moment kannst du in der Meditation erfahren, du kannst diesen Mindset einüben, dieses kurze Innehalten, um die gewohnte und erlernte Reaktion eben nicht folgen zu lassen.
Folge nicht blind und taub deiner Wahrnehmung
Ein Beispiel für diesen Raum: Du sitzt am Steuer deines Autos und fährst auf der linken Spur auf der Autobahn. Im Rückspiegel siehst du (Sehsinn), dass ein anderes Auto auf deiner Spur naht. Der Fahrer blinkt hektisch auf, um dich aus dem Weg zu bekommen. Du spürst, dass dein Puls steigt, dein Herz schneller schlägt, du nimmst Entrüstung und Aggression wahr (Propriozeption). Was wäre deine übliche Reaktion?
Würdest du jetzt gern stur und auf der linken Spur bleiben? Oder du fährst du entnervt zur Seite und zeigst dem Bekloppten deinen Stinkefinger? Oder wählst du die Freiheit, atmest tief durch, spürst in deinen Körper hinein (Propriozeption), spürst dein Herz schlagen, atmest aus, und entscheidest: Ok, wenn der Bursche am Herzinfarkt sterben will, ich will es nicht. Seelenruhig wechselst du die Spur und pfeifst ein fröhliches Liedchen. Du hast den Moment zwischen Reiz und Reaktion abgewartet und nicht das Übliche getan.
Tu es öfter und ein paar wunderbare Synapsen werden sich in deinem Gehirn bilden, kleine neuroplastische Wunder, die dich zu Gelassenheit, Frieden und Freiheit führen. Eventuell kannst du sogar herzlich über dich selbst und deine Wahrnehmung lachen, über deine Angewohnheit, wie ein kleines Rumpelstilzchen in die Luft zu gehen, wenn ein unentspannter Knallkopf dir in die Quere kommt.
Fazit: Unsere Sinne sind ein sehr subjektives Messinstrument, jedoch, so erstaunlich das klingen mag, mithilfe von Achtsamkeit stellen sie ein mächtiges Instrument zur Selbsterkenntnis dar. Wenn wir die ausgetretenen Pfade unserer gewohnten Reaktionen auf Sinnesreize verlassen, warten Freiheit und Selbstliebe auf uns. Trau dich, sie winken dir schon zu!
Buchtipp
Die Sinne als Tor zur Achtsamkeit
Über die körperliche Wahrnehmung zu einem gelassenen Geist – Mit 7-Wochen-Workshop für alle Sinne
von Inga Heckmann
Die bewusste Beschäftigung mit den Sinnen ist reine Meditation, durch die wir automatisch ganz im Moment ankommen. Gleichzeitig lernen wir die versteckten Mechanismen unserer Wahrnehmung kennen und gelangen so zu mehr Selbsterkenntnis. Diese faszinierende und körperbasierte Achtsamkeitspraxis wird hier mit altem Yoga-Wissen, neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und zahlreichen kreativen Übungen kombiniert. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen sowie die Körperwahrnehmung (Propriozeption) werden geschult.
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31.05.2022
Viel Spaß auf deinen Wegen wünscht dir
Inga Heckmann
Autorin, Musikerin, Redakteurin, Meditiererin
https://www.penguinrandomhouse.de/
Autorin Inga Heckmann
Inga Heckmann ist ärztlich geprüfte Yogalehrerin, Autorin, Musikerin und Redakteurin. Sie hat unter anderem die Bücher »Von der Kunst Yoga & Achtsamkeit im Alltag zu leben« und »Das kleine Buch vom guten Morgen« verfasst.
Ihre Leidenschaft gilt neben den Themen Ayurveda, Yoga, Achtsamkeit und Meditation dem Verfassen von Geschichten und Texten. Inga Heckmann lebt und arbeitet in München.
Foto: Inga Heckmann ©Marcella Merk Photography, München
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