Zwischen Scham und Kraft

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Zwischen Scham und Kraftt atmen natureZwischen Scham und Kraft – wo entsteht Vertrauen? Eine meditative Reflektionsreise

Mit einer Offenheit im Herzen wende ich mich dieser Frage zu. Ich nehme sie in mir auf und lasse sie in mich hineinsinken, um zu erforschen, was sie in mir in Bewegung bringt. Das letzte Wort klingt nach wie ein Echo in den Bergen meiner Hoffnungen. Ein leichtes, zartes Kribbeln belebt meinen Energiekörper und legt sich um mich wie eine zweite Haut. In meinem Herzraum breitet sich eine Bejahung aus. Mein Körper will mehr Größe einnehmen und mein Brustkorb tritt mit Freude und Neugierde nach vorn. In dieser Bewegung spüre ich den Klang von Vertrauen in mir.

Ja, im Vertrauen kann ich mich zeigen, will mich sogar zeigen und möchte gesehen werden. Das Leben wird dann zu einem riskanten Flirt, auf den ich mich mit kindlicher Leichtigkeit einlassen kann. Ein verschmitztes Lächeln legt sich um meine Lippen. Mein Geist verleiht den Gefühlen einen fantastischen bildlichen Ausdruck. Wie humorvoll und gewitzt ich in diesem Lebensflirt werde. Kein Szenario macht mir dann genügend Angst, um mich von der Lebendigkeit abzuwenden. Sie trägt mich und ich gebe mich ihr hin. Lachen und Weinen vereinen sich zum authentischen Ausdruck, der mich auf dem Spektrum zwischen sinnlicher Tiefe und poetischer Gleichmütigkeit tanzen lässt. Ich möchte im Moment aufgehen und dann in ihm vergehen, um als die Gleiche neugeboren zu werden. Das alles macht Vertrauen mit mir. Es bereitet den geschützten Raum, in dem sich mein Sein, auch oder gerade wegen dem Risiko des Scheiterns, entfalten kann.

Das stimmt mich nachdenklich. In der körperlichen Erforschung von Vertrauen bemerke ich, dass es eine interessante Freundschaft mit dem Risiko geschlossen hat.

Im Vertrauen kann ich dem Risiko des Lebens direkt in die Augen schauen. Und dieser mutige Blick auf das Lebensrisiko ebnet mir den Weg ins Vertrauen. An dieser Stelle mache ich eine Pause und atme tief ein und aus. Etwas sortiert sich neu in mir und sucht nach den Worten, die zu ihm passen. Der Atem will von meinem Brustkorb und Zwergfell durch den Bauchraum hindurch bis hin zum Steißbein in mich hineingezogen werden. Beim Ausatmen entspannt sich mein Körper mit einem erleichternden Seufzer. Ein bisschen mehr Raum entsteht zwischen meinen Rippen.

In freien Körperbewegungen spüre ich tiefer hinein, ich will die Verbindung besser nachvollziehen. Mit einer Lockerung der Muskeln fließen die Erkenntnisse in Worte hinein. Vertrauen braucht das Risiko wie einen Nährboden, in dem seine Samen zu einem bunten Dschungel heranwachsen können. Abgesicherte und durchgeplante Monokulturen, wie es der Verstand so sehr mag, entziehen dem Boden jegliche Nährstoffe. Risikoarme Umgebungen bringen so wenig Vertrauen hervor wie städtische Betonlandschaften wilde Blumenwiesen. Die äußeren Bilder spiegeln die innere Realität. Bei diesem Gedanken wird meine Innenwelt ein paar Grad kühler und mein Rippen- und Brustbereich ziehen sich schützend zusammen.

Ein mutiger, tiefer Atemzug will meinem Herzen wieder Raum schenken.

Ich suche den Weg hinaus aus der Kühle, indem ich mich auf das Vertrauen ausrichte. Mit jedem Schritt traue ich mich mit meinem Bewusstsein das Todesrisiko zu erschließen und lerne, dass mich das Leben in die wilde, mir noch unbekannte Welt tragen will. Dabei ist das Risiko genauso real wie irreal. Es ist real, denn der Zweifler und die Schichten meiner Wunden, Vergangenheit und Identifikationen werden vergehen. Es ist irreal, weil die Essenz meiner Lebendigkeit unangetastet bleibt. Dort wo, das Gehende und Bleibende einander begegnen, ist die Weggabelung des Lebens, wo das Risiko das Vertrauen wachküsst. Umso größer mein Vertrauen ist, desto größeren Risiken kann ich in die Augen blicken – flirtend, mit Humor und voller ernsthafter Leichtigkeit.

Mit diesen Gedanken und dem weiten Gefühl von Vertrauen in meinen Zellen nehme ich die Schönheit von Kraft in mir wahr. Eine bebende Stille geht von ihr aus. Meine Präsenz erstreckt sich mit feinen Vibrationen in den Raum um mich herum – ruhig verankert zwischen Herzchakra und Solarplexus, bereit für das Unerwartete in jeder Sekunde. Mit Heiterkeit fühle ich den lustvollen Charakter der Kraft. Die Lust will Abenteuer und ist bereit für das große Spiel der Lebendigkeit. Dies kann sie nur, weil die Kraft ihr die Qualitäten verleiht, um sich in der abenteuerlichen Risikowelt zu behaupten. Das Vertrauen ist der Kraft gewidmet, geht aus ihr hervor und wird von ihr genährt. Kenne und spüre ich meine Kraft, wird das Risiko zur Einladung und der Todeskuss der Lebendigkeit zur unwiderstehlichen Anziehung.

Diese Erkundungstour bringt mich an Orte, die ich in meinen Forschungen zur Wut bereits entdeckt habe.

Ich will sie nochmal betrachten und lasse meine Aufmerksamkeit in den unteren Bauchraum absinken. Dabei reibe ich meine Hände stark aneinander, spanne meine Muskeln in den Armen an und aktiviere die tiefen Töne meiner Stimme aus dem Bauch heraus. Ich mache mich groß, erlaube mir energetisch Raum einzunehmen und drücke Hände sowie Füße auf den Boden. Energie umgibt mich wie eine Wolke, bevor sie plötzlich zum Herzen und dritten Auge emporsteigt. Die Energie schüchtert mich in den ersten Momenten ihres Aufsteigens ein. Dann muss ich mich daran erinnern, dass ich meine eigene Energie händeln kann – ja, sogar dafür gemacht bin.

Dabei offenbart sich eine große Absurdität – die Angst vor der eigenen Kraft, die sich in schamhaften Unterdrückungen der Wut manifestiert. Ich soll oder will nicht da sein, sagt sie. Viele Wunden der strukturellen Ablehnung von Lebendigkeit gehen mit ihr einher. Dabei ist Kraft die sublimierte Form der Wut. Eine abgelehnte Wut kann nicht zur Kraft aufsteigen, sich entfalten und mit dem Lebensrisiko flirten. Seitdem sich dieser Zusammenhang in mir erschlossen hat, begegne ich der Wut willkommen heißend mit offenen Armen. Ihre Energiewolken sind meine eigene Lebensenergie. Und ihre tiefen Töne und angespannten Muskeln sind die Reserven meiner Stärke. Mit ihr erweitert sich mein Selbstausdruck in seinem lebensbejahenden Erfahrungsspektrum. Ich beginne mich selbst deutlicher wahrzunehmen, spüre meine Grenzen klarer und bin bereit mich selbstverantwortlich meinem eignen Leben zuzuwenden. Die Versteckspiele und Abhängigkeitsgeschichten der Scham nehmen ein Ende.

Lehne ich die Wut ab, lehne ich einen Teil von mir selbst ab – und damit ein Stück der großen Lebendigkeit, die sich durch mich realisieren wollte.

Das ist das Ziel der Scham. Worüber sie sich legt, soll verheimlicht und verdeckt werden – die Wut, die Kraft, die Lust oder die ganze Lebendigkeit. Der Schritt zu einem unauthentischen Roboter ist dann nicht mehr weit. Der schamhafte Roboter will nicht an seine Lebendigkeit erinnert werden und passt sich deswegen freundlich seinem Umfeld an, um jegliche tiefere Berührungen zu vermeiden. Er agiert auf Wunsch und Nachahmung der Umwelt. Mistrauen und Unsicherheit gegenüber dem eigenen wahrhaftigen Ausdruck entstehen. Ich bin nicht gut, denkt die Scham. Die Wut macht mich gefährlich und außerdem ist sie unangebracht, mutmaßt sie. Wenn ein Mensch um seine Gutheit nicht weiß, wird er stetig nach Anerkennung und Bestätigung in seinem Umfeld suchen. Erinnerungen an das Roboterleben kommen in mir auf und mein ganzer Körper will sie vehement aus sich herausschütteln.

Doch auch die Scham erzählt nur Geschichten, um das Überleben durch Selbstablehnung zu sichern. Und ihre Absicht ist nobel, denn es gab einen Moment, da war sie lebensnotwendig. Ein kindliches Nervensystem kann die Ablehnung und Gefühlsintensität mit dem Ausblick auf den Todeskuss nicht allein halten – welch geniale Lösung, die Energien abzudimmen und unter der Kategorie „gefährlich, nicht anfassen“ zu versiegeln.

Diese Erkenntnis liegt schwer auf meinem Herzen, denn die Ablehnung der Lebendigkeit ist ein weit verbreiteter Flächenbrand.

Die abgerodeten Wälder, die mit Pestiziden vergifteten Böden und mit Plastik überhäuften Meere – all das spiegelt die innere Ablehnung der eigenen Natur wider. Die Entfremdung der inneren Biotope ist real. Zu real, um von einer entfremdeten Kultur erkannt zu werden. Nur eine Wiederentdeckung dieser einzigartigen Lebenslandschaft in mir lässt mich der Natur um mich herum vertrauensvoll ihren Entfaltungsraum geben. Ich lerne sie wieder wahrhaftig wertzuschätzen. ‚Wie innen so außen‘ hallt das geistige Gesetz der Analogie in meinen Gedanken nach und löst dabei eine andächtige Stille in mir aus.

Meine Haut wird mit einer Weichheit sanft durchzogen. Ein bedächtiges Schmunzeln legt sich um meine Lippen. Meine Augen werden enger. Eine mit Wut genährte, leidenschaftliche Liebe meldet sich und dabei wird mir klar, dass mein Körper, alle Köper, sich erinnern. Sie kennen den Weg von der beengenden Scham zur lustvollen Kraft. Sie wissen, wie die Größe von Vertrauen klingt und wie die kribbelnde Bejahung zum Leben schmeckt. Und sie können uns zeigen, wo Heilung wirklich nötig ist. Sie tragen uns durch den Schmerz und die Trauer, durch die Ruinen vergangener Lebendigkeit.

Ich horche auf den Nachklang der letzten Bewegungen, die die Frage in mir ausgelöst hat.

18.07.2021
Sara Tanoe Gnanzou
Körperphilosophin, Lebenstrainerin & Autorin

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Sara Tanoe GnanzouTanoe-Gnanzou-Profil

Die Sehnsucht nach Lebendigkeit führte Sara Gnanzou zunächst zu Reisen durch die Welt, einem interdisziplinären Philosophiestudium und Tätigkeiten im Beratungs- und Choachingbereich. Seit 2020 widmet sie sich der spirituellen Lebensforschung. In Ihre Arbeit fließen neben tantrischem Wissen und westlicher Philosophie auch die Körper- und Traumaforschung mit ein. Durch das Teilen ihrer Forschungserkundungen durch Wort und Bild möchte sie unterstützend dazu inspirieren, das eigene Sein zu erforschen und die Lebendigkeit erblühen zu lassen.

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