Hildegard von Bingen zwischen Kosmos, Kirche und Heilkunst

Hildegard von Bingen beschäftigt sich im Garten mit Kräutern

Hildegard von Bingen – Visionärin des Mittelalters zwischen Kosmos, Kirche und Heilkunst

Eine Stimme gegen den Strom

Hildegard von Bingen (1098–1179) war eine der außergewöhnlichsten Frauen des Mittelalters – ein leuchtender Stern in einer Zeit, die Frauen kaum Handlungsspielräume zugestand. In einem Zeitalter, das geprägt war von kirchlicher Hierarchie, männlicher Dominanz und der Unterordnung der Frau unter den Mann, erhob sie ihre Stimme – und diese Stimme hallt bis heute nach.
Sie war Mystikerin, Äbtissin, Komponistin, Naturheilkundige, Schriftstellerin, Seherin – und vor allem eine der wenigen Frauen des 12. Jahrhunderts, deren Ideen, Texte und Visionen bis in die höchsten Kreise von Kirche und Politik Gehör fanden. Ihre Werke reichen weit über die Grenzen der Theologie hinaus und bieten eine ganzheitliche Sicht auf Körper, Geist und Kosmos, die in ihrer Zeit revolutionär war.

Kindheit und Berufung: Der Weg ins Kloster

Hildegard wurde im Jahr 1098 als zehntes Kind einer adeligen Familie in Bermersheim geboren. Wie es für das zehnte Kind üblich war, wurde sie dem religiösen Leben geweiht. Im Alter von acht Jahren kam sie unter die Obhut der adligen Jungfrau Jutta von Sponheim in das Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg, wo sie eine klösterliche Ausbildung erhielt.
Schon als Kind hatte sie Visionen – Lichter, Farben, Klänge und Bilder, die sie jedoch lange Zeit für sich behielt. Erst mit 42 Jahren begann sie, auf göttlichen Befehl hin ihre Visionen niederzuschreiben – ein Akt der Selbstermächtigung in einer von Männern dominierten Kirche.

„Was ich sehe, sehe ich nicht mit äußeren Augen, sondern innerlich in der Seele.“
— Hildegard von Bingen

Visionärin in einer Männerwelt: Autorität durch Inspiration

Das wohl Erstaunlichste an Hildegard ist, dass sie sich in einer Gesellschaftsstruktur behaupten konnte, in der Frauen keine Autorität zugestanden wurde – weder in der Theologie noch in der Wissenschaft oder Politik. Ihre Legitimation schöpfte sie aus ihren göttlichen Visionen, die sie in Werken wie „Scivias“ (Wisse die Wege), „Liber Vitae Meritorum“ (Buch der Lebensverdienste) und „Liber Divinorum Operum“ (Buch der göttlichen Werke) niederschrieb.
Diese Visionen – symbolträchtig, farbenreich und tiefgründig – interpretierten die göttliche Ordnung und das Verhältnis von Mensch, Natur und Gott. Besonders bemerkenswert: Papst Eugen III. bestätigte Hildegards Visionen als göttlich inspiriert – was ihr einen beispiellosen theologischen Spielraum eröffnete.

In ihren Briefwechseln mit Päpsten, Kaisern (Friedrich Barbarossa), Erzbischöfen und einfachen Mönchen zeigte sie sich furchtlos. Sie kritisierte kirchlichen Machtmissbrauch, mahnt Reformen an und predigte sogar öffentlich, was Frauen im 12. Jahrhundert untersagt war.

Spiritualität und Theologie: Die göttliche Ordnung des Kosmos

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Hildegards Theologie fußt auf einer tiefen Verbindung zwischen Schöpfung, Mensch und Gott. Ihre zentrale Kategorie war die „Viriditas“ – ein Begriff, den sie selbst prägte und der für „Grünkraft“, Lebendigkeit, göttliche Energie steht.
Die Welt, so Hildegard, sei von Gott durchdrungen; die Schöpfung sei ein Spiegel des Göttlichen. Der Mensch trage Verantwortung, in Harmonie mit dieser Ordnung zu leben – ökologisch, ethisch und spirituell.

In ihren Visionen erscheinen kosmische Kreise, Lichtkegel, Feuerzungen – all dies nicht als abstrakte Symbole, sondern als konkrete Hinweise auf das Zusammenwirken von Mikrokosmos (Mensch) und Makrokosmos (Welt).
Ihre Werke zeigen einen radikal ganzheitlichen Denkansatz, der Körper, Geist, Seele, Natur und Kosmos als untrennbar miteinander verbunden begreift – eine Sichtweise, die heute wieder enorme Relevanz gewinnt.

Die Frau als göttlicher Spiegel: Feminine Macht in Hildegards Denken

Trotz ihrer klösterlichen Lebensweise vertrat Hildegard ein emanzipiertes Frauenbild. Ihre Schriften betonen die spirituelle Kraft und kreative Potenz der Frau. Besonders auffällig ist ihre Darstellung der göttlichen Weisheit („Sophia“) in weiblicher Gestalt – oft als glänzende Frauengestalt mit Krone oder Flammen dargestellt.
Anders als die offizielle Theologie ihrer Zeit, die das Weibliche oft mit Sünde, Versuchung und Schwäche verband, zeichnet Hildegard ein positives Bild weiblicher Spiritualität: Die Frau ist schöpferisch, heilend, prophetisch.

In ihren Briefen rügte sie Bischöfe, ermutigte Äbtissinnen und ließ sich nicht einschüchtern. Ihre Vision einer spirituell gleichwertigen Rolle der Frau war nicht nur mutig, sondern auch revolutionär.

Hildegard als Naturheilkundlerin: „Physica“ und „Causae et Curae“

Neben ihren theologischen Schriften verfasste Hildegard zwei umfangreiche medizinische Werke:

  • „Physica“: Eine Heilmittelkunde über Pflanzen, Tiere, Steine und Metalle
  • „Causae et Curae“: Ein Werk über Krankheitsursachen, Diagnosen und Therapien

Darin vereint sie überliefertes Wissen mit eigener Beobachtung, ergänzt um eine spirituelle Deutung von Krankheit. Gesundheit bedeutete für sie Gleichgewicht – Krankheit war Ausdruck von Disharmonie zwischen Körper, Seele und Umwelt.
Besonders betonte sie die Rolle der Ernährung, der Lebensrhythmen und der Heilpflanzen. Ihr Denken ist erstaunlich modern – ein Vorläufer der ganzheitlichen Medizin.

Hildegard verstand Heilen als geistigen, körperlichen und sozialen Prozess. Ihre Empfehlungen reichten von Dinkel, Fenchel und Galgant bis hin zu psychischen Ratschlägen und Fastenpraktiken.

Die Musik der Engel: Klang als Spiegel des Göttlichen

Ein oft übersehener Teil ihres Schaffens ist ihr musikalisches Werk. Hildegard komponierte über 70 Gesänge und das Mysterienspiel „Ordo Virtutum“, in dem Tugenden und das Laster in einem dramatischen Streit auftreten.
Ihre Musik ist unverwechselbar: ekstatische Melodien, weite Intervalle, spirituelle Kraft. Sie war der Überzeugung, dass Musik den Menschen mit dem göttlichen Ursprung verbindet. Klang war für sie ein Instrument zur Heilung der Seele.

„Der Mensch ist ein Instrument Gottes, und seine Seele ist die Musik.“
— Hildegard von Bingen

Prophetin und Kirchenlehrerin: Wirkung bis heute

Hildegards Einfluss blieb über Jahrhunderte bestehen – auch wenn ihre Schriften zwischenzeitlich in Vergessenheit gerieten. Im 20. Jahrhundert erlebte sie eine Renaissance: in der Theologie, der Naturheilkunde, der Esoterik, der Musik und der Frauenbewegung.

Im Jahr 2012 wurde sie von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin („Doctor Ecclesiae“) ernannt – ein Titel, den nur vier Frauen in der gesamten Kirchengeschichte tragen. Ihre Botschaft bleibt aktuell: Ganzheit, Verantwortung, weibliche Stärke, spirituelle Tiefe.

Fazit: Hildegards Vermächtnis in der Gegenwart

Hildegard von Bingen war eine Frau, die ihrer Zeit weit voraus war. Sie verband Wissenschaft und Spiritualität, Theologie und Naturheilkunde, Musik und Mystik.
In einer Welt, die Frauen den Mund verbot, sprach sie mit göttlicher Autorität. In einer Zeit, in der Krankheit nur als Strafe galt, sah sie Heilung im Einklang mit der Natur.
Ihr Denken und Wirken machen sie zu einer zeitlosen Lehrerin einer ganzheitlichen Weltsicht – und zu einer der faszinierendsten Persönlichkeiten der mittelalterlichen Geschichte.

Quellen und Literatur:

  1. Furlong, M. (1997). Visions and Longings: Medieval Women Mystics.
  2. Dreyer, E. (2005). Passionate Spirituality: Hildegard of Bingen and Hadewijch of Brabant.
  3. Von Bingen, H. (2002). Hildegard’s Healing Plants.
  4. Lee, M. (2018). Bodies of Medieval Women.
  5. Stamps, R. F. (2023). Hildegard – 12th Century Feminist Mystic.
  6. Classen, A. (2014). Mental Health, Spirituality, and Religion in the Middle Ages.
  7. Arblaster, J. et al. (2024). Medieval Mystical Women.
  8. Beer, F. (1992). Women and Mystical Experience in the Middle Ages.
  9. Molina, C. (1994). Illness as Privilege: Hildegard von Bingen.
  10. Petroff, E. A. (2022). Women and Mysticism in the Medieval World.

07.12.2020
Uwe Taschow

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Uwe Taschow Krisen und Menschen Uwe Taschow

Als Autor denke ich über das Leben nach. Eigene Geschichten sagen mir wer ich bin, aber auch wer ich sein kann. Ich ringe dem Leben Erkenntnisse ab um zu gestalten, Wahrheiten zu erkennen für die es sich lohnt zu schreiben.
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“Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.”
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