Paradies inmitten der Hölle

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Paradies inmitten der Hölle

Alice Herz-Sommer (1903 – 2014)

„Der Mensch braucht nicht Essen, er braucht nur einen Inhalt. Und das kann die Musik sein. Nicht die Malerei und nicht der Goethe mit dem Shakespeare, denn die Musik macht uns vergessen. Zeit existiert dann nicht mehr. Man hört, und speziell in einer schwierigen Situation ist man verzaubert, in einer anderen, in einer besseren, hoffnungsvolleren Welt.“

Die Konzertpianistin und Überlebende des KZ Theresienstadt, Alice Herz-Sommer, starb als älteste Einwohnerin Londons am 24. Februar 2014 im 111. Lebensjahr in ihrer Wohnung in Hampstead. Dort wohnen u.a. der berühmte Pianist Alfred Brendel (er wurde 90 Jahre alt am 5. Januar 2021) und der englische Biologe und Entdecker der „morphogenetischen Felder“ Rupert Sheldrake (geb. 28. Juni 1942), der in der Aura des Benediktinermönchs & Mystikers Dom Bede Griffiths (1906 – 1993) in den Jahren 1978/1979 in dessen Sat-Chit-Ananda-Ashram in Süd-Indien seine bahnbrechenden Erkenntnisse als späteres Buch zu Papier gebracht hatte: „Das schöpferische Universum“.

Alice Herz-Sommer wurde am 26. November 1903 zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Marianne in einem Vorort von Prag geboren.

Als Tochter jüdischer Eltern, dem Fabrikantenehepaar Friedrich und Sofie Herz, wächst sie im Umfeld eines aufgeklärten und liberalen Bürgertums auf. Bereits in frühen Jahren entdeckt Alice ihre Liebe zur Musik. Mit drei Jahren saß sie das erste Mal am Klavier, mit fünf Jahren bekam sie Klavierunterricht. Zudem erlernt die junge Alice mehrere Fremdsprachen.

In ihrem Elternhaus in Prag verkehrten bekannte Schriftsteller, Wissenschaftler, Musiker und Schauspieler, wie Sigmund Freud und Franz Kafka, der für Alice wie ein älterer Bruder war und oft mit ihr spazieren ging. Alice Herz-Sommer ist wohl eine der letzten lebenden Menschen, die Franz Kafka noch persönlich kannten. Er war Freund ihres Schwagers, des Journalisten, Schriftstellers und Philosophen Felix Weltsch. Kafka, Weltsch, der Journalist Oskar Baum und der Schriftsteller, Übersetzer und Komponist Max Brod kamen jeden Sonntag zusammen, um über das Tagesgeschehen und Politik zu sprechen und sich gegenseitig vorzulesen, was sie unter der Woche geschrieben hatten.

Alice war es als zehnjähriges Mädchen des Öfteren erlaubt, mitzukommen. Die Eltern waren zudem intensiv befreundet mit den Eltern von Gustav Mahler.„Ich habe auch Franz Werfel kennen gelernt. Er hat in einem seiner Romane geschrieben: Man muss der Menschheit alle Sünden verzeihen, wenn ein Beethoven herauskam. Und er hat Recht.

Als Alice Herz-Sommer dem österreichischen Pianisten und Komponisten Artur Schnabel (1882 -1951) vorspielte,

um seine Meisterschülerin zu werden, lehnte dieser ab, denn er könnte ihr weder technisch noch musikalisch etwas beibringen. 1937 wird ihr Sohn Raphael  in Prag geboren. Doch nach und nach verschlechtert sich die Situation. Als die deutsche Wehrmacht im März 1939 Prag besetzt, beginnt auch dort die Verfolgung der jüdischen Bürger.

Einige Bekannte, Freunde und Verwandte wie ihre Schwester Irma sowie ihr Schwager Felix Weltsch und Max Brod konnten mit dem letzten Zug am 14. März 1939 fliehen. Alice, bereits eine bekannte und gefeierte Pianistin, wurde aufgrund ihrer jüdischen Herkunft mit einem Auftrittsverbot belegt und konnte daraufhin nicht mehr öffentlich Klavier spielen. Den Lebensunterhalt der Familie konnte Alice mit dem Klavierunterricht finanzieren.

Durch die deutsche Besatzung wurde dies jedoch auch von Tag zu Tag schwieriger, denn Juden durften keine Nicht-Juden mehr unterrichten. Somit wurde vielen Juden auch die letzte Lebensgrundlage genommen. Dennoch setzte sich Alice über die Bestimmungen hinweg und unterrichtete weiter. „Es war alles verboten, man konnte kaum mehr wo einkaufen, mit der Tram nicht mehr fahren. In einen Park durften wir nicht gehen. Wir sind mit unseren Kindern auf einen jüdischen Friedhof gegangen, damit sie bessere Luft schnappen konnten“.

1942 deportierten die Nazis ihre 72 Jahre alte und kranke Mutter.

Sie sahen sich nie wieder. Neben ihrer Mutter verlor auch ihr Ehemann Leopold später in einem KZ sein Leben. Alice Herz-Sommer, sonst eine Optimistin, verfiel daraufhin in Depressionen. Ein einschneidendes und prägendes Erlebnis hatte sie eines Tages, als sie durch die Straßen von Prag ging:

„Eine innere Stimme kam mir in den Sinn, an die ich mich auch nach Jahrzehnten noch genau erinnere, an welcher Stelle in Prag dies geschah. Diese Stimme sagte mir: Jetzt kannst nur du dir helfen, nicht der Mann, nicht der Doktor, nicht das Kind. Und im selben Moment wusste ich: Ich muss die 24 Etüden von Frédéric Chopin spielen. Diese Etüden sind die größte Anforderung an jeden Pianisten. Sie sind wie Goethes Faust oder Shakespeares Hamlet. Herrliche Kompositionen. Ich rannte nach Hause, und von dem Moment an habe ich Stunden um Stunden und Stunden geübt, bis zu unserer Deportierung.“

Sie selbst, ihr Mann und ihr sechsjähriger Sohn Raphael wurden in das KZ Theresienstadt deportiert.

Doch einmal mehr zeigte sich, wie wertvoll ihre musikalische Bildung für sie war.

Im Juni 1940 begannen die Nazis damit, aus Theresienstadt ein Konzentrationslager zu machen. In der Kleinen Festung richteten sie am 10. Juni 1940 ein Gefängnis der Gestapo ein, in dem bis 1945 etwa 32.000 tschechische Oppositionelle, Mitglieder des Widerstandes gegen die Besatzung und Kriegsgefangene eingesperrt wurden.

Ein Jahr später, im November 1941, entstand in der Garnisonsstadt ein Sammel- und Durchgangslager für die jüdische Bevölkerung Böhmens und Mährens. Um der Öffentlichkeit ein normales Leben mit zufriedenen Einwohnern vorzuspielen, um dadurch die menschenfeindliche Ideologie der Nazis zu verschleiern und um die internationale Öffentlichkeit über die mit der „Endlösung der Judenfrage“ verbundenen Ziele zu täuschen, lässt die SS ein von den Lagerhäftlingen selbst organisiertes Kulturleben zeitweilig zu. „Wir mussten spielen, weil dreimal im Jahr das rote Kreuz kam, da wollten die Deutschen zeigen, dass es den Juden in Theresienstadt sehr gut geht. Es war Propaganda der Deutschen“.

Sie spielte in mehr als 100 KZ-Konzerten und verbesserte dadurch den Alltag der Mithäftlinge in einer Welt von Hunger, Leid und Tod.

Ihr Sohn Raphael war mehr als fünfzigmal einer der Hauptdarsteller in der Kinderoper Brundibár des Komponisten Hans Krása, der als alter Mann im KZ Auschwitz-Birkenau in Polen starb. Unter anderem spielten die Häftlinge, weitgehend ohne Partituren, aus dem Gedächtnis, Beethoven, Bach und die 24 Etüden Chopins. Alle halbe Stunde wechselten sich die vielen Konzertpianisten des Lagers ab, um in einem kleinen Zimmer auf dem Piano des Lagers zu üben.

An einigen Tagen waren bis zu vier Konzerte angesetzt.

Immer wieder verschwanden die Namen der Musiker von den Transportlisten, die in andere Vernichtungslager führten. Auf die Frage hin, wie Alice es geschafft hat, das Leben im Konzentrationslager auszuhalten, antwortete sie: „Da gibt es nur ein Wort als Erklärung: Die Musik. Die Musik ist ein Zauber. Wir haben alles auswendig gespielt. Die Etüden, die Beethoven-Sonaten, Schubert, alles. Im Rathaus-Saal für 150 Leute, alte, verzweifelte, kranke, verhungerte Menschen. Die haben gelebt von der Musik, die Musik war das Essen. Die wären längst schon gestorben, wenn sie nicht gekommen wären. Und wir auch“.cover Alice Herz-Sommer

Ihr Mann, Leopold Sommer, wurde Ende September 1944 in das KZ nach Auschwitz verbracht, danach in das KZ Buchenwald, darauf folgte das KZ Flossenburg und er starb kurz vor der Befreiung 1945 in Dachau an Flecktyphus. Alice und ihr Sohn Raphael, als eines von nur 130 Kindern, überlebten KZ Theresienstadt. Ihr Mann rettete ihr und dem gemeinsamen Kind Raphael durch seine Warnung, nichts freiwillig zu machen, vor seinem Abtransport das Leben. Ein weiterer Schicksalsschlag, als ihr Sohn Raphael im Jahr 2001 im Alter von 64 Jahren starb.

Alice Herz-Sommer spielte mit 110 Jahren noch immer täglich mehrere Stunden Klavier. Im Dezember 1993 hatte ich sie besucht – sie war damals 94. Eine ungewöhnliche Frau und Jahrhundertpersönlichkeit.

30.09.2021
Roland R. Ropers
Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher, Buchautor und Publizist

www.KARDIOSOPHIE-NETWORK.de


Paradies inmitten der Hölle Roland Ropers Portrait 2021Über Roland R. Ropers

Roland R. Ropers geb. 1945, Religionsphilosoph, spiritueller Sprachforscher,
Begründer der Etymosophie, Buchautor und Publizist, autorisierter Kontemplationslehrer, weltweite Seminar- und Vortragstätigkeit.
Es ist ein uraltes Geheimnis, dass die stille Einkehr in der Natur zum tiefgreifenden Heil-Sein führt.
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