Warum Identifikation und Anhaftung so viel Leid verursacht

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Warum Identifikation und Anhaftung so viel Leid verursacht auge hand manWarum Identifikation und Anhaftung so viel Leid verursacht

Wenn das unbegrenzte und unpersönliche Bewusstsein, das ausnahmslos jeder von uns ist, sich selbst ignoriert und vollkommen von Wahrnehmungen hypnotisieren lässt, dann bezieht es seine Identität ausschließlich aus seinem eigenen Inhalt. Was ursprünglich formlos ist, hält sich für Form. Das ist Identifikation, die größte Behinderung auf dem Weg zur spirituellen Selbsterkenntnis. All das, womit wir uns identifizieren, halten wir, bewusst oder unbewusst, für das, was wir sind. Wir übersehen, welch schwerwiegende Einschränkungen wir uns damit selbst auferlegen…Identifikation geht mit Anhaftung einher und eine Kernaussage der buddhistischen Lehre lautet: Anhaftung verursacht Leid.

Rollenidentifikation – Warum Identifikation und Anhaftung so viel Leid verursacht

Es gibt unzählige gesellschaftliche Rollen, von denen uns manche zugewiesen werden, während wir andere eigenständig wählen.
Wenn wir eine gesellschaftlich angesehene Rolle ausfüllen, ist es verführerisch, sich mit ihr zu identifizieren und stolz darauf zu sein, z.B.: „Ich bin ein bedeutender Politiker!“ – so machen wir eine vorübergehende Aktivität zu einer scheinbar beständigen Identität.
Jede Rollenidentifikation ist zum Scheitern verurteilt und kann keinen dauerhaften Bestand haben, weil früher oder später die Illusion entlarvt wird. Denn wir werden jede Rolle irgendwann zurücklassen müssen, spätestens auf dem Sterbebett. Dann bleibt nur noch das, was immer da war – das Einzige, wovon wir nie getrennt werden können, weil es unsere wirkliche Identität ist, unser wahres Selbst.
Es kann ohne Frage großen Spaß bereiten, bestimmte Rollen zu spielen. Solange wir uns nicht mit ihnen identifizieren, werden wir sie eines Tages bereitwillig abgeben können, ohne darunter zu leiden.

Die Identifikation mit Gegenständen

Eine typische Art der Identifikation ist jene mit materiellem Besitz, also mit allerlei Gegenständen. Diese geschieht fast ausschließlich unbewusst,
d.h. auf intellektueller Ebene wissen wir: „Das Auto in meiner Garage hat nicht wirklich etwas mit dem zu tun, was ich bin. Es macht nicht mein Sein aus. Ich bin immer noch derselbe, wenn es gestohlen oder zerstört wird.“
Doch wir haften am sogenannten Eigentum, weil wir unbewusst glauben, dass er ein Teil dessen ist, was wir sind. Verlieren wir ihn, dann scheinen wir weniger geworden zu sein, ebenso wie wir mehr zu werden scheinen, wenn wir unserem Besitz materielle Güter hinzufügen. Hier lautet die unbewusste Annahme: „Je mehr ich habe, desto mehr bin ich.“

Es gibt auch: „Je mehr ich kann, desto mehr bin ich.“ Das ist die Identifikation mit Fähigkeiten aller Art. Oder: „Je mehr ich weiß, desto mehr bin ich.“, die Identifikation mit dem Bildungsstand.

Wir gehen also grundsätzlich davon aus, dass unsere Identität Verluste erleiden oder erweitert werden kann. Weil das mentale Selbstbild, das ausschließlich aus unhinterfragten Gedanken besteht, eine klare Definition von uns selbst hervorruft (eine Definition ist immer eine Einschränkung!), halten wir uns für etwas Begrenztes und bekanntlich können Grenzen immer ausgeweitet oder enger gezogen werden. Wir bemühen uns also das ganze Leben lang um Weiterentwicklung und Wachstum auf der persönlichen Ebene – darum, mehr zu werden als wir jetzt sind.
Doch das ist völlig unmöglich, weshalb Leid die unausweichliche Folge ist.

Wenn wir das Unbegrenzte in uns gefunden haben, nimmt die Motivation, das Begrenzte zu vergrößern, erheblich ab.

Die Identifikation mit dem Körper

Angeblich glauben die meisten Menschen an ein Leben nach dem Tod, also an den Fortbestand des Bewusstseins über den Tod des physischen Körpers hinaus. Gleichzeitig aber identifizieren sie sich mit ihrem Körper, d. h. sie glauben, der Körper zu sein, als der sie sich erfahren. Das ist natürlich vollkommen widersprüchlich. Denn wären wir der Körper, könnten wir unmöglich dessen Tod überleben. Eine körperliche Wiederauferstehung wird es nicht geben. Weil unsere wahre Identität aber nicht auf den Körper reduziert werden kann, benötigen wir ihn nicht, was spätestens der physische Tod unter Beweis stellen wird. Inwiefern die Identifikation mit dem Körper verheerende Folgen hat, liegt auf der Hand.
Wer sich mit seinem Körper identifiziert, macht sein Glück von dessen Verfassung abhängig. Die Aussage „Gesundheit ist das Wichtigste!“ ist ein klares Symptom für die Identifikation mit dem Körper. Wer dann im Alter schwächer wird oder erkrankt, verliert das, was er für das Wichtigste hielt. Was wir im tiefsten Innern sind, kann nicht erkranken und ist unsterblich.

Ein junger Mensch mit einem attraktiven und leistungsfähigen Körper verdrängt wahrscheinlich lieber, dass er oder sie eines künftigen Tages – schlagartig oder allmählich – die Schönheit und alle körperlichen Fähigkeiten einbüßen wird, die jetzt das Identitäts- und folglich Selbstwertgefühl beeinflussen. Wenn wir uns aber nicht durch den allem zugrunde liegenden Gedanken „Ich bin dieser Körper“ mit der physischen Form identifizieren, dann können wir im Falle einer Erkrankung oder im fortgeschrittenen Alter als unbeteiligter Zeuge den plötzlichen oder allmählichen Verfall des Körpers beobachten, ohne davon innerlich berührt zu werden.

Die Identifikation mit Gedanken

Die Identifikation mit dem Verstand sorgt dafür, dass wir den Gedanken eine Bedeutung beimessen, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Wie fatal das ist, verdeutlicht folgender Sachverhalt: Ausnahmslos jede Lebenssituation ist, unabhängig von unseren Gedanken und den daraus hervorgehenden Interpretationen, vollkommen neutral. Es ist, wie es ist und bevor wir ein Problem daraus machen, gibt es keines. Die Natur an sich kennt keine Wertung, erst der Mensch bringt diese durch seine Gedanken hervor.
Eine Situation scheint erst dann gut oder schlecht zu sein, wenn der Verstand sie entsprechend einordnet. Keine Lebenssituation kann jemals Leid hervorrufen, sondern nur der gedankliche Widerstand gegen diese Lebenssituation!
Jeder Mensch kann bestätigen, dass ein Großteil des Leids selbstverursacht ist, und zwar durch belastende und letztlich sinnlose Gedanken.
Der Verstand liebt es, ein Drama nach dem anderen zu kreieren.

Das gesamte illusionäre Selbstbild gründet allein auf unbeobachteten Gedanken. Im Grunde kann es ohne Gedanken überhaupt nicht zu einer Identifikation kommen.

Man kann mit Leichtigkeit feststellen, dass die Menschen sehr häufig mit gedanklichen Positionen identifiziert sind, z.B. indem man ihr Verhalten während einer Diskussion beobachtet: Wenn sie ihre Stimme erheben, also lauter sprechen, um ihrer Argumentation verbalen Nachdruck zu verleihen, dann identifizieren sie sich offensichtlich mit einer persönlichen Meinung, die sie vertreten. Das kann man auch bei sich selbst beobachten, wenn man bewusst genug ist und Selbstreflexion betreibt.
Worum geht es dabei?
Warum nehmen Menschen so emotional an Diskussionen teil?
Weil sie die Wahrheit – bzw. das, was sie für die Wahrheit halten – verteidigen wollen?
Nein. Die Wahrheit braucht keinen Rechtsanwalt! Eine Tatsache bleibt auch dann eine Tatsache, wenn sie von niemandem als solche akzeptiert wird. Jeder weiß das. Worum geht es also?
Es geht in vielen Fällen darum, Recht zu behalten und den „Diskussionsgegner“ ins Unrecht zu setzen. Wenn ein Mensch mit einer Meinung identifiziert ist, dann glaubt er unbewusst, eine Diskussion „gewinnen“ zu müssen, denn eine Niederlage würde seinem Ego schweren Schaden zufügen. Schlimmstenfalls scheint ein Identitätsverlust zu drohen. Denn wer bin ich, wenn mein gesamtes Weltbild, das all meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, wie ein Kartenhaus zusammenbricht?

Wie würde es sich anfühlen, eine Meinung einfach nicht zu äußern und sich während einer Diskussion zurückzuhalten oder sich gar nicht erst eine eigene Meinung zu einem bestimmten Thema zu bilden?

Die Identifikation mit Emotionen

Was liegt folgender Aussage zugrunde? „Ich bin wütend!“ Natürlich die Identifikation mit einer Emotion.
Wahrhaftiger wäre es aber zu sagen „Ich empfinde Wut“ oder „Ich nehme Wut wahr“.
So entsteht eine Distanz und es kommt nicht zu einer Identifikation. Wenn wir das beobachtende Bewusstsein im Hintergrund der Gefühle und Gedanken sind, dann können sie uns nicht überwältigen. Ich möchte nicht missverstanden werden: Selbstverständlich muss sich niemand bspw. für empfundene Trauer und den ungehemmten Ausdruck der Emotionen rechtfertigen. Aber man sollte zu der Erkenntnis gelangen, dass auch dann im Hintergrund tiefer Friede herrschen kann, wenn im Vordergrund Tränen fließen.

Nationalität ist eine Illusion

Eine weitverbreitete Identifikation ist jene mit einer bestimmten Nationalität. Natürlich resultiert auch diese allein aus Gedanken. Unter genauerer Betrachtung erweist sich die Nationalität eines Menschen als Illusion. Auch aus der Perspektive der Genetik kann kein Mensch eindeutig einer bestimmten Nation zugeordnet werden. Es gibt keine rein deutschen Gene, weil wir keinen unabhängigen Entwicklungshintergrund haben. Alle Menschen auf diesem Planeten haben denselben Ursprung und gemeinsame Vorfahren. Man könnte diese erweiterte Perspektive auch auf die Tierwelt übertragen, welche erheblich darunter zu leiden hat, dass wir unsere Verwandtschaft zu ihr verdrängen.

Wenn man die Erde aus dem Weltall betrachtet, stellt man fest, dass die Grenzen zwischen den Ländern und diese selbst gar nicht wirklich existieren und bloß Erfindungen der Menschen sind.

Wer sich mit einer bestimmten Gruppe identifiziert, welche nicht die gesamte Menschheit umfasst, der separiert sich von seinen Mitmenschen und kreiert eine Trennung. Eine Trennung hat stets das Potential, sich auf der individuellen Ebene zu einem Konflikt in zwischenmenschlichen Beziehungen und auf der kollektiven Ebene schlimmstenfalls zu einem Krieg zu entwickeln. Der Beweis: Allein im 20. Jahrhundert sind mehrere Millionen Menschen ums Leben gekommen, weil sie selbst und diejenigen, von denen sie getötet wurden, sich mit ihrer Nationalität, Religion oder mit einer Ideologie identifiziert hatten, sodass sie nicht in der Lage waren, die bedingungslose Einheit allen Lebens zu erkennen.

Das Ende der Suche nach sich selbst

Identifizieren bedeutet „gleichmachen“, d.h. wir setzen das, womit wir uns identifizieren, mit uns selbst, mit unserem Sein gleich. Nun offenbart sich mit Klarheit, wie absurd Identifikation im Grunde ist. Wenn ein Bestandteil unseres Lebensinhalts verschwunden ist und es uns trotzdem immer noch gibt, wissen wir spätestens dann, dass es niemals unsere Identität gewesen sein kann – denn wenn sich unsere Identität auflöst, müssten wir uns logischerweise mit ihr auflösen.

Während die Disidentifikation vom Körper ein mühsamer Prozess sein kann, lässt sich meiner Einschätzung nach die Identifikation mit Gegenständen verhältnismäßig leicht überwinden. Ohnehin stellt sich Eigentum als Illusion heraus: Es handelt sich natürlich nur um Leihgaben. Das gilt zwar auch für den Körper, aber die diesbezügliche Identifikation ist oft ziemlich gefestigt und lässt sich ohne dramatische Vorkommnisse in der Regel nicht sofort durchbrechen.

Nichts kann dem, was wir essentiell sind, etwas hinzufügen oder entnehmen. Im tiefsten Innern bleiben wir von Gewinn und Verlust aller Art immer vollkommen unbeeinträchtigt. Doch das gerät schnell in Vergessenheit, wenn wir nicht mehr wissen, wer wir wirklich sind. So sucht das Bewusstsein sich in all den vielfältigen Erscheinungen, deren Form es vorübergehend annimmt. Und wenn es sich selbst nur als Form kennt, dann interpretiert es das Ende der Form als sein eigenes Ende. Da sich früher oder später ohne Ausnahme alle Formen auflösen, wird sich mit ihnen auch das Glück verflüchtigen, sofern es an sie geknüpft und somit von ihnen abhängig war. Deshalb ist es so wichtig, sich selbst als das formlose Gewahrsein zu erkennen.

Im „normalen“ Bewusstseinszustand sind wir so von den Objekten fasziniert, dass wir dem Licht des Bewusstseins keine Beachtung schenken, obwohl es deren alleinige Grundlage ist. Ohne Bewusstsein kann es bekanntlich keine Wahrnehmungen geben.

Es ist durchaus möglich, einen inneren Frieden zu etablieren, der von keinem Geschehnis jemals erschüttert werden kann. Die Voraussetzung: Erkennen Sie sich selbst als die bewusste Präsenz, die schon da ist, bevor ihr alles hinzugefügt wird, womit Sie sich normalerweise identifizieren und die auch noch da ist, wenn sich all das wieder aufgelöst hat.

16.03.2018
Simon Bartholomé

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Simon Bartholomé,
verspürte schließlich das intensive Bedürfnis, die Tiefe des Lebens zu erforschen und gab sich diesem Impuls vollständig hin – was sich als die beste Entscheidung erwies, die er jemals getroffen habt.
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