Ich wer ist das?

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frau-maske-auge-fantasyAusführliche Leseprobe aus dem  Buch:
Ich – wer ist das? Expedition zum Selbst

von Professor Peter Pfrommer
Leseprobe (S. 8-21):
Was bedeutet „Ich“? Es ist unbestreitbar, dass das „Ich“, was immer darunter verstanden wird, von unserer Gesellschaft wie eine Ikone vorausgetragen wird.

Die Zeitung „Die Zeit“ titelte in einem Artikel vom 22.05.2015:

„Unterm Strich zähl Ich“

und verweist damit auf die typischen ich-bezogenen Maßstäbe und Begrifflichkeiten unserer Gesellschaft wie Wettbewerb, Karriere, Wachstum, Produktivität, Leistung, Erfolg, Ansehen, Status, Schönheit, Gesundheit, Superstar, Supermodel etc.

Wer an diesen Ich-Wettbewerben nicht teilnimmt oder nicht mehr teilnehmen kann, wer nicht nach dem eigenen Vorteil strebt, der wird in gewisser Weise als nicht gesellschaftsfähig oder gar als krank angesehen.

Die meisten Therapien und Coachings zielen daher darauf ab,

erschöpften Menschen wieder zu neuer Ich-Stärke zu verhelfen. Denn nur auf diese Weise, so ist die allgemeine Ansicht, kann man diesen Menschen zu persönlichem Glück verhelfen.

Im Mittelpunkt des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens steht also etwas, das wir mit „Ich“ bezeichnen und das gleichzeitig Ausgangspunkt und Ziel all unseres Handelns darstellt.

Die Identität dieses Ich ist uns so selbstverständlich, seine Bedeutung so vertraut, dass wir nicht darüber nachdenken und es auch nicht in Zweifel ziehen. Aber was ist eigentlich dieses „Ich“? Natürlich ist der Begriff „Ich“ zunächst rein formal die erste Person Singular unter den Personalpronomen.

Fahndet man im Internet nach dem Begriff „Ich“, so stößt man darüber hinaus auf zahlreiche Definitionen, die der folgenden ähneln: „Bezeichnung für die eigene separate individuelle Identität einer menschlichen Person“.

Mit diesem Satz wird allerdings nicht wirklich etwas erklärt,

sondern lediglich ein Begriff durch einen anderen ersetzt, nämlich „Ich“ durch „Identität“. Das ist so ähnlich, wie wenn man „Feuchtigkeit“ durch die Eigenschaft „Nässe“ zu erklären versucht.

Dennoch verweist die Definition mit dem Begriff „separat“ auf eine grundsätzliche Eigenschaft, ja sogar auf den Knackpunkt der Ich-Identität: Ich, das ist immer Trennung. Weitere Nachforschungen fördern die Aussagen wichtiger Vertreter der Philosophie und der Psychologie zutage.

So erklärt zum Beispiel Immanuel Kant,

dass das Ich sich selbst durch den „inneren Sinn“ als ein zeitliches Wesen wahrnimmt. Es hat somit durch die Abfolge von Gedanken und Gefühlen „seine eigene Geschichte“.

Der „äußerer Sinn“ lässt die Dinge im Raum erscheinen, wozu der eigene Körper gehört. Das wahre Selbst – das „transzendentale Subjekt“ –kann dagegen laut Kant und seiner „Kritik der Vernunft“ nicht erfahren werden.

René Descartes wiederum führt mit seinem berühmten Satz „Ich denke, also bin ich“ die Ich-Identität auf das menschliche Denken zurück. Ich kann meine Existenz als Geist nicht leugnen. Doch mein Körper kann eine Illusion sein. Er begründet mit der Unterscheidung zwischen Geist und Körper einen Dualismus, der die abendländische Philosophie fortan geradezu penetrant begleitet.

Sigmund Freud schließlich sieht in seinem „Strukturmodell der Psyche“ das Ich als Teil der Persönlichkeit, der zwischen Es, Über-Ich und der Umwelt vermittelt. Spätestens mit den Aussagen der modernen Gehirnforschung büßt das Ich endgültig seine Kontur ein und verliert sich in einer Vielfalt diverser Gehirnfunktionen.

So unterscheidet der Verhaltensphysiologe Gerhard Roth zahlreiche wechselnde Ich-Zustände wie das Körper-Ich, das Verortungs-Ich, das perspektivische Ich, das Erlebnis-Ich, das Kontroll-Ich, das autobiografische Ich, das selbstreflexive Ich, das sprachliche Ich sowie das ethische Ich und ordnet all diesen Ich-Zuständen die Aktivität bestimmter Gehirnregionen zu.

Mit den Bezeichnungen „Ich“, „Selbst“ und „Ego

sind für die menschliche Identität mehrere Worte gebräuchlich, deren Unterschied, falls vorhanden, nicht sofort offensichtlich wird. Während die Bezeichnung „Selbst“ häufig im Zusammenhang mit den östlichen Philosophien und Weisheitslehren auftaucht und einen durchaus positiven Beiklang hat, bildet das Wort „Ego“ den eher negativen Gegenpart und findet sich in Ausdrücken wie „Egoismus“, „Egomanie“ oder „Egozentrik“.

In diesem Text wird daher in der Regel die im Deutschen gebräuchlichste Form „Ich“ verwendet, da mit ihr am wenigsten Bewertung mitschwingt und sie daher relativ neutral klingt.

In einem Artikel der Zeitung „Die Zeit“ vom 14.08.14

wurden verschiedene Ich-Ansichten katalogisiert, die hier auszugsweise wiedergegeben werden:

  • Francis Crick (Biochemiker): „Ihr Sinn für Ihre eigene Identität beruht auf dem Verhalten von Nervenzellen
  • Thomas Metzinger (Philosoph): „Das Selbst ist kein Ding, sondern ein Vorgang
  • Max Frisch (Schriftsteller): „Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er für sein Leben hält
  • Martin Buber (Religionsphilosoph): „Der Mensch wird am Du zum Ich
  • René Descartes (Philosoph): „Cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich
  • Arthur Rimbaud (Dichter): „Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Es müsste heißen: Es denkt mich
  • Harald Schmidt (Entertainer): „Wer soll man denn sein? Wer ist denn schon wer?

Die einzelnen Aussagen sollen hier nicht kommentiert werden. Aber es wird deutlich, dass unter der Bezeichnung „Ich“ durchaus Unterschiedliches verstanden wird und teilweise gegensätzliche Interpretationsansätze vorhanden sind.

Um mehr Klarheit zu schaffen,

werden im Folgenden typische Gesichtspunkte unserer Ich-Auffassung diskutiert. Dadurch erhellen sich weit verbreitete Grundannahmen, die uns den Umgang mit den verschiedenen Ansichten erleichtern.

Das getrennte Ich Es ist völlig unstrittig, dass jeder Mensch ein einzigartiges Individuum darstellt. Seine genetischen Dispositionen, körperlichen und geistigen Merkmale und Prägungen sind einmalig.

Kein Mensch gleicht dem anderen in seinen Erfahrungen, Überzeugungen, Kenntnissen, Talenten, Ängsten etc. Häufig wird das Ich daher als die Summe dieser individuellen Eigenschaften aufgefasst. Es umfasst somit Geist (Gedanken, Gefühle und Empfindungen) und Körper.

Diese Ich-Auffassung kennt ein Innen, das ist der Bereich innerhalb des Körpers, wo auch der Geist verortet wird, und ein Außen, das für die gesamte Umwelt außerhalb des Körpers steht.

Zwischen Ich und Nicht-Ich verläuft eine Grenze, die als Hautoberfläche sehr markant in Erscheinung tritt. Diese relativ organische bzw. anatomische Betrachtungsweise des Selbst könnte man auch als „Ich bin der Körper“ zusammenfassen.

Oft wird jedoch eine weitere Grenze zwischen Geist und Körper gezogen,

wobei das Ich im Kern nur dem geistigen Anteil zugeordnet wird. Diese Anschauung hat in der abendländischen Philosophie eine lange Tradition und wurde im 17. Jahrhundert von René Descartes mit seinem bereits oben erwähnten Satz „cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) auf den Punkt gebracht.

Auf Descartes geht auch die Bezeichnung „Leib-Seele-Dualismus“ zurück, die seither für eine dualistische Weltanschauung der Subjekt-Objekt-Trennung steht. Dieser Dualismus bildet bis heute das philosophische Rückgrat vieler religiöser Anschauungen, die das Ich als unsterblichen Wesenskern (Seele) des Menschen deuten.

Die meisten Menschen nehmen sich ja auch so wahr.

Sie fühlen sich als eigenständiges (und hoffentlich unvergängliches) Ich. Das Ich wird hierbei als eine Art Kontrolleur verstanden, der wie in einem Kommandostand im Kopf die Ereignisse überblickt und die Zügel des Handelns in der Hand hält.

Dem Körper kommt hingegen die Rolle eines biomechanischen und sensorischen Apparates zu, der dem Ich dient und entsprechend funktional behandelt wird. In diesem Fall ist der Körper sozusagen das Eigentum des kommandierenden Ich, was sich auch in unserer Sprache ausdrückt.

Wir sagen zum Beispiel:

Mein linker Fuß kitzelt“. Wir sagen nicht: „Ich Fuß kitzele links“. Dieser Umgang mit uns selbst ist im Allgemeinen so selbstverständlich, dass wir ihn im Alltag nicht in Frage stellen.

Während die Geisteswissenschaften auch heute noch manchmal an der Vorstellung eines feinstofflichen Ich-Kernes (Seele) im Menschen festhalten, interpretiert die moderne Gehirnforschung in der Tradition des Materialismus das Ich als reines Gehirnprodukt und damit als Ergebnis biophysikalischer bzw. materieller Vorgänge.

Da sich die Wechselwirkungen materieller Vorgänge nicht auf einen bestimmten Ort eingrenzen lassen, lösen sich –bei genauer Betrachtung –im Materialismus die Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich auf.

Dennoch wird auch von der Gehirnforschung nach wie vor das Gehirn als Träger der menschlichen Identität hervorgehoben. Der bekannte deutsche Gehirnforscher Martin Spitzer prägte in diesem Zusammenhang den Satz:

Sie sind Ihr Gehirn!“.

Das Gehirn als Steuerorgan des Organismus wird auch als Sitz des Bewusstseins angesehen, obgleich es dort bisher noch nicht gefunden werden konnte.

Allen angesprochenen Ich-Auffassungen ist im Grunde gemeinsam,

dass sie die menschliche Identität in irgendeiner Weise einzugrenzen versuchen. Das scheint zunächst selbstverständlich zu sein. Denn der Begriff „Identität“ beinhaltet vom Grundverständnis her immer eine Unterscheidung, eine Abgrenzung von etwas, das dieser Identität nicht angehört.

Der Begriff „Ich“ als Kennzeichnung einer speziellen Person macht nur dann einen Sinn, wenn es auch jemanden „anderes“ gibt. Die Entwicklung einer eigenen und einzigartigen Identität wird in unserer Gesellschaft normalerweise als etwas Positives gedeutet.

Dass jede Festlegung auf eine bestimmte Identität gleichzeitig auch mit einer Beschränkung bzw. Einengung einhergeht, wird nicht so deutlich wahr- bzw. in Kauf genommen.

Eng mit dem Begriff der Identität ist der Vorgang der Identifizierung verbunden.

Darunter versteht man, dass die Identität bzw. das Ich mit bestimmten Objekten oder Merkmalen der Umgebung gleichgesetzt bzw. als „identisch“ angenommen wird.

Wenn ich mich zum Beispiel mit einer speziellen Fußballmannschaft identifiziere, dann fühle, freue und leide ich mit der Mannschaft, als wäre sie ein Teil von mir. Durch Identifizierung kann sich das Ich ausweiten, vergrößern und dadurch verstärken.

Menschen identifizieren sich zum Beispiel mit ihrer Familie, ihrer Heimat oder ihrem Land. Dadurch überträgt sich ein Teil der Macht des Objektes auf das eigene Ich-Gefühl.

Doch jede Identifizierung stellt gleichzeitig immer auch eine Abgrenzung dar. Die Identifizierung mit einer bestimmten Fußballmannschaft macht nur dann einen Sinn, wenn es auch eine gegnerische Mannschaft gibt, von der man sich abheben möchte. Jede Identifizierung verstärkt daher die Trennung, die jeder Ich-Anspruch automatisch nach sich zieht.

Ein wichtiger Eckpfeiler unserer Identität ist also das Prinzip der Trennung.

Allerdings wird unser Identitätsgefühl in der Selbstwahrnehmung im Wesentlichen auch von zwei weiteren Auffassungen gestützt, die im Folgenden kurz umrissen werden:

  1. Wir stehen der Welt in der speziellen Erste-Person-Perspektive gegenüber. Darin sehen wir uns als Zentrum unserer Wahrnehmungen und die Welt erstreckt sich um uns herum. Wir befinden uns in deren räumlichem Mittelpunkt. Wer oder was sieht, hört, spürt diese Welt? Ich. Das Ich ist der Träger des Bewusstseins, es ist der individuelle Beobachter, der Zeuge der Welt. Dabei gilt auch hier das Prinzip der Trennung. Auf der einen Seite befindet sich das Ich mit seiner Fähigkeit, sinnliche Erfahrungen zu machen, auf der anderen Seite erstreckt sich eine von ihm getrennte Welt, von der die Reizung der Sinne auszugehen scheint. In diesem Fall wirkt die Welt als Sender, das Ich bildet den Empfänger. Umgekehrt erfahren wir uns als die Instanz, von der das Sehen, Hören etc. ausgeht, während die Welt Gegenstand dieser Wahrnehmung ist. Egal wie herum man es betrachtet, in beiden Fällen herrscht eine klare Subjekt-Objekt-Trennung.
  2. Die Ich-Identität entsteht außerdem durch die Überzeugung, dass wir uns selbst gestalten, Gedanken erzeugen und frei auf die Welt einwirken können. Kaum ein Eindruck ist so identitätsstiftend und so hartnäckig wie unser Empfinden, einen freien Willen zu besitzen und nach eigenem Ermessen das Leben kontrollieren zu können. Das Ich ist immer auch der Entscheider in uns. Ein Ich ohne freien Willen würde uns seltsam erscheinen. Aber auch diese Fähigkeit ist nicht ohne Trennung zu haben. Um unabhängig zu sein, muss sich das Ich von seiner Umwelt lösen, es muss sich gleich einer Kompassnadel frei und ohne Widerstand bewegen können, was im Extremfall eine vollständige Isolation voraussetzt. Denn jede Verbindung und jeder Kontakt bedeutet gleichzeitig eine Beeinflussung, die die Freiheit des Ich einschränken würde.

Zusammenfassend könnte man das Ich mit einem König vergleichen,

der in einem Wasserschloss residiert, umgeben von einem Wassergraben. Durch die Fenster des Schlosses blickt das Ich hinaus in die Welt jenseits des Grabens.

Im Schloss führt es sein Eigenleben, aber es kann auch mithilfe der Zugbrücke Verbindung mit seiner Umwelt aufnehmen, Handlungen ausführen, Macht ausüben. Auf jeden Fall aber ist es vor seiner Umwelt geschützt, wobei der Wassergraben die fundamentale Trennung zwischen ihm und der Welt manifestiert.

Unsere übliche Ich-Auffassung kommt ohne eine solche Trennung nicht aus. Unser Bild von einem eigenständigen und unabhängigen Selbst ist immer gleichzeitig ein Symbol der Begrenzung mit allen Konsequenzen, die Grenzen üblicherweise nach sich ziehen.

Gesellschaftliche Konsequenzen

Unsere Auffassung vom getrennten Ich ist die Voraussetzung für zahlreiche soziale Interaktionen, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens darstellen. So ist unsere Auffassung von Verantwortung üblicherweise an die Vorstellung einer freien Ich-Entscheidung geknüpft.

Viele Menschen rühmen sich ihres klugen und bedachten Handelns. Im positiven Fall lassen sich dadurch „eigene“ Verdienste erzielen. Dies führt zu Empfindungen wie Stolz und jemand Besonderes zu sein.

Im negativen Fall kann das Ich allerdings auch schuldig werden oder es wird zur Rechenschaft gezogen. In diesem Zusammenhang treten dann Gefühle auf wie Scham, Schande, Schmach bzw. Rache, Zorn und Groll anderen Ichs gegenüber. Auch diese Gefühle machen nur Sinn bei einem selbstverantwortlichen Ich. Was bliebe von diesen gesellschaftlichen Konventionen, wenn es kein selbstständiges Ich gäbe?

Die Auffassung vom getrennten Ich hat aber auch starke Auswirkungen auf die unterschiedlichsten religiösen Vorstellungen.

Viele dieser Vorstellungen sind stark egozentriert. Die hinduistische Lehre von der Reinkarnation setzt ein getrenntes Ich voraus, das in einem neuen Körper wiedergeboren werden kann.

Gemäß der buddhistischen Lehre vom Karma sammelt das Ich auf Basis von guten und schlechten Taten gutes oder schlechtes Karma für das nächste Leben. Und das christliche Jüngste Gericht entscheidet in ähnlicher Weise über den Platz des Ich im Jenseits.

Auch wenn bei diesen Vorstellungen nie ganz klar ist, aus welcher Substanz das über den Tod hinaus verbleibende Ich, die sogenannte „Seele“, sein soll und welche Ich-Beschaffenheit es mitnimmt bzw. überträgt, so kommt keine dieser Vorstellungen ohne eine klare Abgrenzung des Ich gegenüber seiner Umwelt aus.

Schließlich bildet unser Identitätsmodell die ökonomische und psychologische Grundlage für unsere gegenwärtige Gesellschaftsordnung, in welcher Leistung, Produktivität und Wachstum im Vordergrund stehen.

Dabei identifiziert sich das Ich wahlweise zum Beispiel mit

  • seiner persönlichen Leistung, was Erfolgsstreben, Leistungsdenken, aber auch Versagensängste nach sich zieht,
  • mit seinen Kenntnissen, was nicht selten in Rechthaberei oder in einer ständigen Abwehrhaltung ausartet,
  • mit dem eigenen Besitz, was mit Verlustängsten einhergeht,
  • mit dem eigenen Status, der dauerhaft verteidigt werden muss,
  • mit einer bestimmten Gruppe, die allerdings eine persönliche Angleichung (Uniformität) erfordert und neue Abgrenzungen (zur Outgroup) schafft,
  • mit der eigenen Individualität, die im schlimmsten Fall in Isolation und Einsamkeit mündet.

Die gesellschaftlichen Konsequenzen unserer Ich-Auffassung liegen also auf der Hand. Sie werden im folgenden Kapitel „Das Ich-Konzept“ weiter vertieft.

Aber werden die bisher dargestellten Interpretationen, Ansätze und Definitionen im Kern unserem Ich-Verständnis gerecht? Haben Nervenzellen, Gedanken, Geschichten, Spiegelungen und Entscheidungen tatsächlich etwas mit dem zu tun, was wir als unsere Identität empfinden? Wenn es in uns einen von allem anderen getrennten Ich-Kern gibt, dann müsste er sich doch finden lassen!

Wenn eine so offensichtliche Ich-Identität existiert, der sich alles unterordnet, dann müsste sie doch leicht zu isolieren und zu betrachten sein, oder nicht? In einem kleinen Gedankenexperiment begeben wir uns daher auf eine erste Suche nach diesem Ich-Kern.

Ein erstes Experiment

Stellen Sie sich vor, Sie werden von einem Mitmenschen beleidigt. Vergegenwärtigen Sie sich wenn möglich einen Fall, wo Sie sich gekränkt fühlten. Vielleicht hat Ihnen am Arbeitsplatz ein Kollege oder eine Kollegin oder gar eine vorgesetzte Person in grobem Tonfall Inkompetenz vorgehalten.

Das wird Sie sicher nicht unberührt lassen.
Vermutlich werden Sie in irgendeiner Weise auf die Attacke reagieren, egal wie.

Die Beleidigung hat etwas in Ihnen getroffen. Man könnte auch sagen: Ihr „Ich“ wurde gekränkt. Aber worin besteht in diesem Zusammenhang das gekränkte „Ich“? Was genau wurde in der Kränkung getroffen?

Überprüfen Sie, ob die folgenden Ich-Ansichten der Kränkung tatsächlich gerecht werden:

  • Ich bin der Körper.“ Viele Menschen setzen sich selbst mit ihrem (einzigartigen) Körper gleich, der als biologisches bzw. physikalisches Objekt für sämtliche Lebensfunktionen verantwortlich ist und sich der Welt bzw. anderen Körpern als Gegenüber präsentiert. Aber kann man einen biologischen, also einen rein materiellen Vorgang tatsächlich beleidigen? Hat er tatsächlich eine Identität, die verteidigt werden müsste? Stellen Sie sich vor, Sie beleidigen eine Maschine. Sie werden wohl kaum eine Reaktion erwarten, es sei denn, die Maschine wäre entsprechend programmiert.
  • Ich bin mein Denken/Gefühl.“ Oft wird eine Grenze zwischen dem Körper und dem ihn steuernden Geist gezogen, wobei das Ich nur dem denkenden Teil zugeschrieben wird. In diesem Fall bin ich sozusagen der Ich-Geist mit seinen Gedanken und Gefühlen, der einen Körper „besitzt“. Aber was ist eigentlich ein Gedanke? Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass es sich hierbei um eine geistige Gestalt handelt, die eine bestimmte Aussage oder eine Vorstellung vermittelt. Der Gedanke „Der Tag fängt ja schon wieder gut für mich an“ ist zunächst einfach eine sprachliche Konstruktion, die als innere Stimme erscheinen mag und die eine Behauptung „über mich“ aufstellt. Aber kann man eine sprachliche Konstruktion beleidigen? Haben Worte und Töne eine Identität? In gleicher Weise können wir eine persönliche Identität von Gefühlen in Frage stellen. Die Empfindung „Hitze in der Brust“ kann sehr intensiv werden. Aber hat sie eine Identität?
  • Ich bin die/der Wahrnehmende.“ Es ist nicht zu leugnen, dass wir die Welt über unsere Sinne in Form von Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Spüren erfahren. Entsprechend könnten wir uns als den „Seher“ oder die „Hörerin“ definieren. Aber kann man hieraus wirklich eine Identität ableiten? Lassen sich die Feststellungen „Ich sehe rot“, „Ich schmecke Süßes“ oder „Ich rieche Rosenduft“ beleidigen? Vermutlich nicht.
  • „Ich bin meine Geschichte.“ Viele Menschen beziehen scheinbar ihre Identität aus ihrer persönlichen, einzigartigen Lebensgeschichte, die zweifellos aus unendlich vielen Einzelereignissen zusammengewebt ist und die bei jeder Gelegenheit für grenzenlosen Gesprächsstoff sorgt. Aber auch das hilft uns nicht wirklich weiter. Die Tatsache eines bestimmten Geburtsdatums oder anderer lebensgeschichtlicher Fakten lässt sich wohl auch kaum kränken.
  • „Ich bin eine außergewöhnliche Person.“ In diesem Fall identifizieren wir uns mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit oder einem besonders attraktiven Körpermerkmal. Diese Einstellung ist daher nur ein Sonderfall der Annahmen „Ich bin der Körper“ bzw. „Ich bin mein Denken“, die bereits oben hinter fragt wurden.
  • „Ich bin der Entscheider.“ Das ist eine besonders hartnäckige Form der Identifizierung. Sie zieht ihre Identität aus der scheinbaren Fähigkeit, eigene Gedanken zu erzeugen und damit freie Entscheidungen herbeizuführen.
    Viele Menschen empfinden sich als die Instanz, die ihr eigenes Leben kontrolliert, die also die Fäden des Handelns in der Hand hält. Aber selbst wenn es eine solche Instanz tatsächlich geben sollte, dann wäre zu begründen, wieso und inwieweit ein persönlicher Problemlösungs- oder Auswahlprozess beleidigt werden kann.

Denken Sie darüber nach!

Möglicherweise fallen Ihnen noch weitere Ich-Identifikationen ein. Sie können das Experiment für sich gerne erweitern, indem Sie jedes Mal fragen, ob sich die jeweilige Identifikation beleidigen lässt.

Sie werden vermutlich nie auf eine überzeugende Begründung einer solchen emotionalen Reaktion stoßen. Wir identifizieren uns mit den unterschiedlichsten Objekten, aber kein Objekt trägt wirklich eine Ich-Identität in sich, die sich beleidigen ließe.

Jedes Mal, wenn wir glauben, eine treffende Beschreibung für unser Ich gefunden zu haben, dann gerinnt es zu einem Objekt, das sich jeglicher Personifizierung geschickt widersetzt. Beim Versuch, unser getrenntes Ich zu finden, laufen wir also wortwörtlich ins Leere.
Kann es sein, dass es dieses getrennte Ich-Objekt überhaupt nicht gibt?

20.04.2020
Peter Pfrommer

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Vita: Prof. Peter Pfrommerkamphausen-Peter-Pfrommer

Peter Pfrommer geb. 1966, studierte in Stuttgart und promovierte im Bereich der Gebäudeklimatik.
Seit 1998 lehrt er als Professor an der Hochschule Coburg im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst. Seine Erfahrungen in Fragen der Selbsterforschung vermittelt er u.a. seit 2013 im Hochschulseminar „Wer ist Ich?“.
Mehr unter: www.ichexperimente.de


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