Der Weltenbaum und die Hüter des Lebens
Lehren der Eibe, Teil 1
Der Weltenbaum ist ein uraltes Symbol der Ganzheit und der Vernetzung allen Lebens. Daran sehen wir, wie die Völker früher – eher durch Mythologie als durch Wissenschaft – ihre geistige Verbindung mit der Natur nährten und dadurch ein ökologisches Bewusstsein entstand, durch das sie in Einklang mit der Erde leben konnten.
Der Weltenbaum
Der Weltenbaum oder Baum des Lebens ist eines der ältesten Symbole der Menschheit. Er verbindet alle Ströme des Lebens zu einem Organismus, der alle Lebensformen – Pflanze, Tier, Mensch, u.v.a. – hervorbringt. Die Kontemplation dieses Urbildes macht bewusst, dass alle Lebewesen miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Genau das lehrt uns heute die moderne Wissenschaft von Gaia, dem Planeten Erde als Superorganismus. Somit kann man die Philosophie vom Weltenbaum als den Urgedanken der Ökologie bezeichnen. Und sie ist mindestens so alt wie die Höhlenmalereien der Mittleren Steinzeit!
Das mythologische Bild spricht das Herz an: Man schützt das Leben aus Liebe und Ehrfurcht, denn der Weltenbaum ist eine Manifestation der göttlichen Schöpferkraft. Er ist heilig, und weil alles Teil von ihm ist, ist alles Leben heilig.
In der Jungsteinzeit und Bronzezeit stand der Baum des Lebens in voller Blüte. In vielen alten Kulturen Eurasiens wurde der ihm innewohnende Geist als eine großen Göttin beschrieben, die immer die jeweilige regionale Göttin der Geburt ist, und oft auch diejenige des Todes, denn Geburt und Tod sind die beiden zusammengehörenden Tore zwischen der geistigen und der körperlichen Seite der Welt.
Im Altertum war der Glaube an Wiedergeburt nicht etwa auf Kelten und Inder beschränkt, sondern praktisch überall verbreitet. Der Weltenbaum heißt so, weil er die drei Existenzebenen Oberwelt, Erde und Unterwelt umschließt. So steht er im Mittelpunkt schamanischer Traditionen, welche weit über zwanzigtausend Jahre alt sind. Wie die Sonne pendelten die Seelen durch Lebensabschnitte in der Oberwelt und in der Unterwelt, immer geleitet und behütet von der Göttin, die dem Weltenbaum innewohnt.
Bei den Kelten, den Hethitern (Hochkultur in Anatolien im 2. Jahrtausend v. Chr.) und im alten Japan galt der Weltenbaum als Urahne der Menschen, und als solcher war er auch der Königsmacher: Im uralten Ritual der Heiligen Hochzeit wurde der von den Menschen gewählte König mit der Göttin des Landes vermählt, der er Ergebenheit und Treue schwor (d.h. die Erde zu schützen und sie niemals zu schänden oder auszubeuten).
Im alten Persien pries der legendäre Hohepriester Zarathustra den Weltenbaum dafür, dass er allem Lebendigen Gedeihen und Gesundheit schenkte. Im Norden Europas hing der schamanische Odin neun Nächte im Weltenbaum Yggdrasil, und kam mit dem Geschenk der Runenzeichen zu den Menschen zurück. Und mit all diesen Traditionen steht eine Baumart in klarer Verbindung: die Eibe
Eibenbotanik
Die Eibe (Taxus baccataL.) ist auf der gesamten Nordhalbkugel verbreitet. Sie ist die älteste Baumart Europas – die Gattung reicht bis in das Jura zurück, die Zeit der Dinosaurier. Aber nicht nur aus diesem Grund wird sie von einigen Botanikern „Urbaum“ genannt. Jeder botanische Aspekt an der Eibe (Wurzelwachstum, ökologische Strategie, Blätter und Photosynthese, Blüte, Frucht und Verbreitung, Holzarchitektur) ist archaisch, völlig ungewöhnlich oder gar einzigartig.
So enthalten z.B. die Holzzellen der Eibe Spiralverdickungen und Myriaden winziger Kristalle! Die Eibe ließ sich auch nie in das botanische Klassifikationssystem einordnen (als Nadelbaum ist sie eine Konifere, was „Zapfenträger“ bedeutet, sie hat aber saftige Früchte statt Zapfen), bis man um die Jahrtausendwende die Definition von „Konifere“ so veränderte, dass die Eibe nun doch hineinpasste.
Auch dass alles an der Eibe bis auf das rote Fleisch ihrer beerenartigen Früchte giftig ist, passt kaum zu einem Nadelbaum der gemäßigten Zone, aber umso besser zum Charakter des mythologischen Lebensbaumes. Denn damit verhält sich die Eibe wie das nicht von der Seite des Weltenbaumes wegzudenkende Symbol der Schlange:
Auch Schlangengift kann Leben oder Tod bedeuten, und daher findet sich die Schlange heute noch als weltweites Emblem der Medizin. Eibenpräparate dienen seit den 1990er Jahren in der (chemotherapeutischen) Behandlung von Brust- sowie Gebärmuttertumoren.
In unserem Zusammenhang sind jedoch ihre enorme Lebenserwartung und ihre einzigartige Fähigkeit zur Regeneration am bedeutsamsten. Eiben wachsen extrem langsam und überdauern jede andere Baumart in Europa um ein Vielfaches. Nach einigen Jahrhunderten beginnen die Eibenstämme, hohl zu werden, was aber, im Gegensatz zu anderen Baumarten und entgegen der Meinung vieler unwissender Menschen (darunter durchaus auch Gärtner und Baumexperten), keinesfalls Verfall, Siechtum und Tod ankündigt.
Während andere Baumarten sterben, können sich bei der Eibe in diesem Abschnitt ihres Lebenszyklus sogenannte Innenwurzeln bilden, die vom oberen Teil des hohlwerdenden Stammes durch diesen herabwachsen, sich im Boden verankern und schließlich zu Innenstämmen werden, die nach und nach die grüne Krone des alten Baumes „übernehmen“, d.h. sie mechanisch tragen und sie mit Wasser und Nährstoffen versorgen.
Über Jahrhunderte wird die fragile Hülle des ursprünglichen Stammes nach und nach verfallen und wegbrechen. Bis ein vollständig erneuerter Baum dasteht, der nur wenige Jahrhunderte alt wirkt und dem man sein viel höheres Alter garnicht ansehen kann. Ein uraltes Wesen in einem neuen Körper!
Eibenkultur
Natürlich haben die Menschen auf allen Kontinenten schon früh das extrem langsame Wachstum und die einzigartige Regenerationskraft der Eibe bemerkt, und so wurde diese Baumart nachweislich zu einem Symbol der Selbsterneuerungskraft der Natur, der zyklischen Wiedergeburt des Lebens.
Bis zurück in die Mittlere Steinzeit (Paläolothikum) reichen die Darstellungen von Eibenzweigen in Verbindung mit dem Schoß der Frau als dem heiligen Tor vom Jenseits in das Diesseits. Auch in späteren Zeitaltern bleibt die Eibe vornehmlich mit Göttinnen der Geburt und Wandlung verbunden, z.B. mit Kybele, Artemis/Diana, Aphrodite/Venus, Persephone und Demeter.
Wird aber auch, besonders auf den Britischen Inseln und in Japan, zu einem bekannten Friedhofsbaum.
Der nordische Weltenbaum Yggdrasil wird seit etwa 300 Jahren fälschlicherweise als Esche oder „Weltenesche“ bezeichnet. Das kommt durch eine Fehldeutung der skaldischen Umschreibung des Weltenbaumes als barraskr, „Nadelesche“.
Die isländische Dichtung (Ältere Edda) bezeichnet ihn auch Laerad, „der Glänzende“, und als vetgrønstr vidr, „wintergrünster Baum“, und natürlich hat die Gemeine Esche weder glänzende Nadeln noch ist sie immergrün. Weitere wesentliche Hinweise zur botanischen Identität von Yggdrasil als Eibenbaum kommen aus den Namen und Attributen der assoziierten Gottheiten.
Da ist zuerst Heimdallr zu nennen. Bekannt aus Wikingerzeiten als ein bulliger Krieger, der die Regenbogenbrücke nach Asgard bewacht, der Heimstatt der Asen (die >asir werden gemeinhin als „Götter“ bezeichnet, aber die Germanen glaubten durchaus schon vor dem Christentum an einen allumfassenden Gott; asir heißt übersetzt „Balken“, sie sind quasi die Säulen der Erde, die Architekten, die das Große Werk jeden Tag aufs neue vollbringen; heute würde man sie eher als Erzengel oder Elohim bezeichnen).
Die Wikinger kamen aber recht spät in der Geschichte, und ihre Religion war bereits degradiert (gewaltverherrlichend), patriarchal und hatte durchaus etwas von Marvel-Comics (jedenfalls das, was die christlichen Schreiber davon übrig ließen). Nein, der ursprüngliche Heimdallr war ein Prinzip, und zwar eines des Lichtes. Daher die Regenbogenbrücke. Heim bedeutet „Welt“, und dallr„Baum“. Heimdallr ist also nichts anderes als der Weltenbaum selbst – auf der Ebene des Lichtes. Der Regenbogen erinnert an den biblischen Vertrag Gottes mit den Menschen.
Und die Brücke führt den Suchenden zu anderen Bewusstseinsebenen. Unter heiligen Bäumen zu meditieren und zu beten war bis vor wenigen Jahrhunderten ein weltweiter Brauch, man denke nur an Gautama Siddharta und seinen Bodhi-Baum, den buddhistischen ”Baum der Erleuchtung“. Auch im alten Judentum ist der Weltenbaum vornehmlich der „Baum des Lichtes“, daraus hat sich die Menora, der siebenarmige Kerzenständer, entwickelt.
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Fred Hageneder
Und die Kinderaugen leuchten…
PS: Und ja, ich denke, diese Erlebnisse sind es wert – wenn wir das beste daraus machen –, dass wir dafür den Weihnachtsbaum-Handel zwangsläufig unterstützen und kleine Nadelbäumchen opfern. Jedenfalls, wenn Kinder das Wunderwerk zu spüren bekommen. Und solange wir den Bäumen dafür danken!
Teil 2 – Weltenbaum Eibe, die Hüter des Lebens – finden Sie ab 29.11.2018 hier auf Spirit-online
19.11.2018
Fred Hageneder
Fred Hageneder
ist ein führender Autor auf dem Gebiet der Ethnobotanik und der kulturellen und spirituellen Bedeutung der Bäume. Er ist Gründungsmitglied der AYG (Ancient Yew Group, Uralte Eiben-Gruppe), die in seiner Wahlheimat Großbritannien für den Schutz der uralten Eiben arbeitet. Er ist Mitglied von SANASI, einer internationalen Gruppe von Wissenschaftlern, die indigene Hüter…
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Danke für den Artikel über diesen wichtigen Baum. Ich meine, es war in einem Buch oder Artikel auch von dir, wo ich zum ersten Mal davon las, dass die Eibe in Deutschland in den Gärten “ausgerottet” wird. und tatsächlich, kurz danach wollte ein Gärtner in einem älteren Garten, den wir neu übernommen hatten, die 2 Eiben dort komplett absägen (weil giftig und gefährlich).
Da ich gerade nicht Vorort war, konnte ich nur noch den zweiten Baum davor retten. Interessant ist aber, dass der Stumpf der ganz tief abgesägten Eibe, nun (nach 2-3 Jahren) wieder tapfer und kräftig ausschlägt.
Danke auch für den Rat, dass man den Weihnachtsbäumen für ihren “Dienst” explizit danken sollte.
Der Autor schreibt:
“Danke, Kira, dass du diesen wichtigen Punkt ansprichst! Einige Eiben an öffentlichen Plätzen sind tatsächlich bedroht (oder gar nicht mehr oder gar nicht erst) vorhanden, weil gewisse Leute ihre Giftigkeit fürchten. Das ist völlig übertrieben. Eiben sind nicht so giftig, wie man denkt. Es kursiert z.B. die Story, dass ein keltischer Stammesfürst sich mit sieben Eibenbeeren das Leben genommen hätte, als er von Julius Cäsar besiegt worden war. In Wirklichkeit müsste man aber einige Dutzend essen, und zwar nicht die süßen Beeren (die ja ungiftig sind), sondern die Kerne. Und man müsste diese holzigen Samenhüllen gründlich zerkauen, was doch sehr unwahrscheinlich ist.
Ebenso die Nadeln: Kinder müssten ganze Hände voll pieksiger Nadeln essen. Und dass, obwohl sie noch nicht einmal weichgekochten Spinat mögen? Grün ist doch ohnehin eine Warnfarbe für Kinder 😉 Man sagt ja auch nicht “Wir müssen alle Rasenflächen im Stadtgebiet vernichten, denn Kinder könnten Kuh spielen und Rasen grasen.”
Ich habe meine Zuversicht aus persönlicher Korrespondenz mit einem Toxikologen, und mir liegt die Habilitationsarbeit eines Professors für Pharmakologie vor, die die Giftigkeit der Eibe behandelt. Außerdem besagen die weltweiten toxikologische Statistiken, dass nur etwa alle 3,3 Jahre ein Mensch durch Eibengift umkommt: alle waren erwachsen, und alle wollten sterben (Suizid).
Zu deinem anderen Punkt. Ja, Eiben investieren sehr viel in ihr Wurzelsystem, daher können sie für uns völlig überraschend zu neuem Leben erwecken.”
Ich war von den Bericht sehr agetan, und fand es schade, dass es der Eibe so an den Gragen geht. Ich sehe da nicht primär die Giftigkeit in Vordergrund, sondern, weil es für unsere Vorfahren so ein heiliger Baum war.
Hatte jetzt mal geschautm wo ich einen Baum als Setzling bekomme, sehe aber in den Baumschulen nur Hecken ….
Hat da jemand einen Tipp, wo ich so einen Baum als Setzling bekommen kann, bzw. welche Art des Taxus baccataL es ist???
Vielen Dank