Mahakala, die ewige Zeit

Yogi der vor der Gottheit Shiva meditiert

Mahakala, die ewige Zeit

Ein Yogi ist jemand, der den Wert der Zeit kennt. Er weiß, dass das Wertvollste im Leben weder Geld ist, auch nicht Informationen, Erfindungen und Technologien, oder Gold und Diamanten. Und sogar nicht die Menschen und ihre Meinungen und Haltungen auf etwas. All dies sind ersetzbare oder veränderbare Ressourcen bzw. Konstellationen. Nicht einmal die Beziehungen in der Gesellschaft, in der Familie und mit den Menschen um uns herum sind davon ausgenommen.

Die Zeit ist die wertvollste Ressource der Welt. Unsere wahre Ressource ist unsere Zeit, unsere freie Zeit, die uns zur Verfügung steht. Sie ist für den Menschen eine nicht erneuerbare Ressource. Genauer: Zeit ist zwar erneuerbar, aber nur durch Tod und Geburt, d. h. durch unkontrollierbare Reinkarnationen, was letztlich dasselbe ist, denn dies hilft der einen, einzigartigen Person, die wir jetzt sind, nicht weiter. Niemand ist in der Lage, irgendetwas gegen Zeit einzutauschen, wenn er sie wirklich braucht.

Die ewige Zeit als eine Gottheit

Das Nachdenken über die Ewigkeit und die Betrachtung der Zeit ist Aufgabe der wenigen, die Verständnis dafür aufbringen können. Das ist es, was ein Yogi tut.

Für Yogis mit einem hinduistischen oder buddhistischen Hintergrund erscheint die Zeit in der Gestalt von Shiva-Kala, Mahakala (große Zeit) oder Kala-Bhairava – Emanationen Shivas (der für Auflösung und Zerstörung steht). Es handelt sich um eine dem Hinduismus und dem tibetischen Buddhismus gemeinsame Gottheit.

Mahakala ist die Gottheit der Zeit, der Illusion, der Zerstörung und der Macht. Er hilft der Seele, jegliche Dualität zu beseitigen. Die Erwähnung von Mahakala geht auf den Atharva Veda zurück.

Meditation der ewigen Zeit

Yogi der vor der Gottheit Shiva meditiert
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In unserer Tradition meditieren Yogis auf besondere Weise in der Einsamkeit. Sie reflektieren über sehr lange Zeiträume und treten dann in den Samadhi ein. Sie meditieren über diese besondere Energie Gottes, die Universen erschafft und sie als universelles Feuer wieder zerstört, wenn die Auflösung der Welten ansteht. Sobald das Feuer der Zeit erlischt, meditiert man darüber, wie die Substanz des zeitlichen sich sozusagen in sich selbst absorbiert und sich in Mahakala verwandelt – in einen absoluten Energiezustand, der über der Zeit steht, die Ewigkeit.

Indem man Mahakala durch diese Meditation ehrt, verbindet man das eigene Ich-Bewusstsein und dessen kleine Zeitwahrnehmung mit wirklich großen Zeitintervallen und -zyklen sowie mit sich bis in die Unendlichkeit erstreckenden universellen Prozessen. So vermischt man den inneren Raum des Mikrokosmos des Körpers mit dem Makrokosmos des Universums zu einem einzigen integralen Selbst.

In Kapitel 2 des Mahakala Tantras werden zwei Fragen zu Mahakala beantwortet:

„Was ist die Definition von Mahakala?“
„Mahakala ist der große Zornvolle, für den die Zählung des zeitlichen aus den Wahrnehmungen eines jeden besteht; und diese Zählung wird jeden Tag fortgesetzt.“ „Er ist derjenige, der die unendliche Zeit besitzt.“

„Wofür stehen die Silben MA sowie HA? Und was bedeutet KALA?“
„Die Silbe MA ist das Mitgefühl des Geistes. Die Silbe HA ist Weisheit. Die Kombination von KA und LA ergibt die Zeit. Prajna (Weisheit) und Upaya (Methode) sollten in großem Mitgefühl miteinander verbunden sein.”

Prajna ist die uns innewohnende Weisheit, das göttliche Bewusstsein in uns. Diese Weisheit ist ewig und befindet sich jenseits der Zeit.
Methode ist alles, was mit unserem Handeln und daher mit dem Karma zu tun hat. Handeln ist Zeit in Dynamik. Im spirituellen Sinne ist Methode das, was das individuelle Bewusstsein reinigt und zur Weisheit (Prajna) führt.

Die Zeit als Illusion

„Die Vielfalt von Zeit, Raum, Materie, Energie und Erfahren existiert nur in der
nicht-existierenden Unwissenheit.“
(Yoga Vasishtha, „Die Geschichte von Kundadanta“)

Das spirituell erwachte Bewusstsein befindet sich dort, wo die Zeit ihren Gang noch nicht begonnen hat, denn Bewusstsein ist zum großen Teil unbeweglich und befindet sich im Zustand des Nichthandelns. Auch wenn man handelt, ist der große Teil des Bewusstseins im Zustand der Inaktivität. Im Raum des „Ich bin“.

Das Handeln existiert in diesem Teil des Bewusstseins lediglich als nicht manifestierte Möglichkeit, als Vibration. Als Potential einer Bewegung und nicht als objektive Tatsache. Dort hat sich die Vergangenheit noch nicht von der Zukunft getrennt und die Zukunft nicht von der Gegenwart. Die Zeit ist hier wie ein Same, der noch nicht zu sprießen begonnen hat.

Es ist eine Welt, in der Zeit und Raum wie in einem transzendentalen Punkt zusammengezogen sind. Ein Jnani (ein Weiser) ist eins mit diesem Punkt. Deswegen weiß er, dass die Zeit dorthin fließen wird, wohin die Bewegung der Vibration in seinem reinen Bewusstsein zeigen wird.

Ein Erwachter, der aus diesem Punkt heraus handelt, kann mit Hilfe seines Willens die Zeit beschleunigen, sie in eine andere Richtung fließen oder sie kreisen lassen. Oder er kann durch die Kraft seiner Absicht subtilere Ebenen erreichen, in denen die Zeit anders fließt. In einer Sekunde kann der Jnani die Ereignisse vieler tausend Jahre durchleben. Und tausend Jahre können für ihn wie eine Sekunde vergehen.

Ein Jnani reist wie ein ewiger, unsterblicher Reisender durch die verworrenen, unendlichen Labyrinthe der Zeit. Er versteht, dass die Zeit und die Welten, in denen er sich bewegt, Illusionen sind, wie ein Trick eines Magiers.

Vergangenheit als Illusion

„Wenn es niemanden gibt, der sich erinnert – wie könnte dann die Erinnerung existieren? Folglich erscheint diese Erinnerung, die im Bewusstsein auftaucht (ob aufgrund früheren Erfahrungen oder anderweitig) als die Welt.“
(Yoga Vasishtha, „Über die Existenz“)

Der Moment, in dem der Jnani das Wissen erhält, ist wie eine zweite Geburt. Wie die Geburt eines vollkommen neuen Wesens in seinem Körper, die wenig mit der Person zu tun hat, welche die früheren Ereignisse erlebt hatte.

Vergangenheit als Spiel der Ideen und Eindrücke

Da die ganze Welt für einen Jnani irreal ist und einer Einbildung gleicht, so ist auch die Vergangenheit eines Menschen, der Realisation erlangt hat, illusorisch und wird als Spiel eigener Gedanken gesehen. Dieses enthält viele Varianten und ist untrennbar von Gegenwart und Zukunft. Es ist einfach ein Strom an gedanklichen Eindrücken, an Erinnerungen, die in den Archiven des Gedächtnisses aufbewahrt werden.
Die Wichtigkeit aller Ereignisse der Vergangenheit verschwindet, sobald das Wissen des Absoluten erlangt ist, Jnana.

Jnana nimmt der Vergangenheit die Grundlage, raubt den Glauben an ihre Wirklichkeit. Denn die Vergangenheit ist auf der Unwissenheit aufgebaut, auf den illusorischen Ideen „ich bin der Körper“, „die Welt existiert“, „ich handle“, „das ist mein“, „das sind sie“ und so weiter.

Sobald die Illusionshaftigkeit von Subjekt und Objekt festgestellt ist, erscheint die ganze Vergangenheit als Spiel, als Theaterstück, das man für Realität gehalten hatte.

Die Zukunft aus dem erwachten Bewusstsein heraus

Ein Jnani lebt in einer Dimension, in der die Zeit noch nicht in ihre drei Zustände aufgeteilt ist. Deswegen versteht er, dass alle Ereignisse im Absoluten gleichzeitig existieren. Genau jetzt, ohne jede Trennung. In der Form subtiler, noch nicht zum Ausdruck gebrachten Potenziale, Ursachen und Wahrscheinlichkeiten.
Diese Wahrscheinlichkeiten sind nicht konkretisiert, sondern gewissermaßen verwaschen. Und sie widerspiegeln die allgemeinen Tendenzen der Seele, die sich hier ebenfalls in einem noch ungeborenen Zustand befinden.

Der Fluss der Zeit ist eine einfache Abfolge der Beleuchtung verschiedener individueller und kollektiver mentaler Abdrücke durch das Bewusstsein.

Zukunft existiert für einen Jnani an sich nicht, weil sie prinzipiell illusorisch ist. Sie geht aus dem erweckten subtilen Bewusstsein des Jnani hervor, als ein Spiel seiner schöpferischen Vorstellung.
Im Wissen um die Einheit von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart im Absoluten, erlaubt ein Jnani der Zukunft ganz natürlich zu fließen. So wie sie ist. Aber manchmal steuert er sie mit der Kraft der Absicht, erschafft ein Modell der Realität, das er für die Manifestation seiner Absichten benötigt.

20.11.2024
Swami Vishnudevananda Giri
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Swami Vishnudevananda Giri Swami Vishnudevananda Giri

Swami Vishnudevananda Giri (Swami Vishnudev) ist ein spiritueller Lehrer in den Traditionen des Advaita Vedanta und des Yogas, ein Sadhu, ein realisierter Meister und Jnani in der Linie des Advaita Vedanta, Philosoph, Theologe und Schriftsteller. Er stammt aus der yogischen Tradition des Sahajayana, des natürlichen Weges der Siddhas, er ist Linienhalter einiger Übertragungslinien des Yogas der Siddhas und spiritueller Meister für viele Schüler in Ost- und Westeuropa, den USA und Indien. Er wurde 1967 in der Ukraine geboren.

Seine spirituelle Praxis und Meditation begannen im Alter von 6 Jahren von selbst, indem er sich intuitiv auf Erinnerungen aus der Vergangenheit stützte. Er hat den Sanatana Dharma als seinen religiösen Weg im Alter von 19 Jahren angenommen. Er absolvierte einige intensive Retreats, deren längstes fast 3 Jahre andauerte. Als Resultat dieses letzten Retreats in den Jahren 1993-1995 erreichte er Samadhi und Realisation.

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