Stille verstehen und Ruf des Herzens hören

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stille verstehen steine natur caimStille verstehen – In der Stille den Ruf des Herzens hören

Stille verstehen ist weit mehr als die bloße Abwesenheit von Geräuschen. Wer lernt, ihr zu lauschen, wird reich beschenkt. In der Stille den Ruf des Herzens hören! Wenn Lautsprecher auf Straßen und in Kaufhäusern unablässig „Stille Nacht“ plärren, ist das eine Ironie, die sich uns meist nicht erschließt – zu sehr werden wir gerade in dieser „besinnlichen Zeit“ mit akustischen, aber auch optischen und olfaktorischen Reizen überflutet. Besagte stille Nacht hielt der Erfindung der Elektrizität nicht stand, scheint es. Stille und Dunkelheit gibt es nur draußen vor den Toren der Stadt, aber nicht in unserem alltäglichen Leben.

Stille verstehen – Haben wir überhaupt eine Vorstellung davon, was uns in der Stille erwartet?

Glauben wir, dass ohne Ablenkung durch Radio, Fernsehen und Internet möglicherweise etwas in uns laut wird, was wir nicht hören wollen? Vermuten wir in der Stille nur Leere und Langeweile – was wir so fürchten, dass wir alles tun, um ihr entgegenzuwirken?

Und zwar wirklich alles: 2014 wurden im Rahmen einer Studie in den USA die Probanten für 15 Minuten allein in einen Raum gesetzt, ohne jegliche Ablenkung, völlig den eigenen Gedanken überlassen. Die Mehrheit von ihnen war bereit, sich selbst elektrische Schläge zu verabreichen, um die Zeit zu verkürzen – und diese Stille nicht ertragen zu müssen.

Wesen des Selbst, Seele der Welt – Ruf des Herzens hören

Dabei hätte sie uns soviel zu sagen! Im Buddhismus wird die Geschichte des Königs erzählt, der einen alten Zen-Mönch im Wald traf und ihn nach dem Wesen des Selbst fragte. Der Alte schaute ihn schweigend an. Der König wiederholte die Frage, diesmal etwas lauter. Der Alte schwieg weiterhin. Der König fragte ein drittes Mal, doch der Alte schwieg. Da wurde der König wütend: „Alter Mann, warum antwortest du nicht?“
Der Alte sagte: „Drei Mal habe ich geantwortet, und drei Mal hast du mir nicht zugehört. Das Wesen des Selbst ist die Stille.“

In einer anderen Variante dieser Geschichte, wie sie der norwegische Abenteurer Erling Kagge in seinem Buch erzählt, stellt Stille die „Seele der Welt“ dar. Kagge, der Expeditionen in die abgelegensten Gegenden dieser Welt unternommen hat, stellt die Frage, was Stille sei, wo sie zu finden wäre und warum sie heute wichtiger denn je ist.

Er beschreibt die „ohrenbetäubenden Stille“ in der Antarktis, dem stillsten aller weltlichen Orte, wo es keine Möglichkeit gibt, sich zu verstecken oder der Furcht, sich selbst besser kennenzulernen, auszuweichen. Stille, stellt er fest, kann langweilig sein, unangenehm und bisweilen sogar beängstigend. Aber vielleicht wäre es doch ganz gut, wenn wir ab und an die Gelegenheit hätten, uns zu langweilen, um so gegen die Unruhe, die wir in uns tragen, anzugehen.

„Die Stille ist eine Bereicherung an sich. Es ist eine Qualität, etwas Exklusives und Luxuriöses. Ein Schlüssel, mit dem sich neue Arten des Denkens erschließen“, so der Weltwanderer. Doch während in der Natur perfekte Stille relativ leicht erfahren werden kann, müssen wir lernen, diese Erfahrungen auf das Stadtleben übertragen und sie auch dort zu finden – und zwar in uns selbst. Stille besitzt einen ganz eigenen Wert, wäre eigentlich immer zu haben und ist doch ein absolutes Luxusgut. In ihr verbergen sich die Geheimnisse der Welt, meint Kagge. Bei Stille geht es seiner Ansicht nach darum, „das, was man tut, von innen zu betrachten. Zu erfahren und nicht zu viel zu denken. Jeden Augenblick groß genug sein lassen. Nicht durch andere und anderes leben.“

Ruf des Herzens

Für den buddhistischen Mönch und Lehrer Thich Nhat Hanh ist Stille nicht nur notwendig, um offen für die Wunder des Lebens zu sein. Sondern „wir sind in dieser Stille auch eher in der Lage, uns zu heilen, sei es seelisch oder körperlich. Es fällt uns leichter zu sein, da zu sein, einfach lebendig zu sein“, hat er erkannt. Und gleichzeitig macht sie uns frei von Sorgen, Schmerzen und Ängsten.

In der Stille kann man hören, wie das eigene Herz einen ruft, und kann sich auf das konzentrieren, was wesentlich ist, statt sich in den „alltäglichen Belangen“ zu verlieren. Deshalb ist sie lebenswichtig für uns:
„Wenn wir innerlich voller Worte und Gedanken sind, wo bliebe dann Platz für uns?“ Thay (Lehrer), wie er genannt wird, sieht Achtsamkeit als einen Weg zur Stille. „[Sie] schafft einen ruhigen inneren Raum, in dem Sie einmal genau hinschauen können, um zu sehen, wer Sie sind und was Sie mit Ihrem Leben anfangen möchten.“ Durch achtsames Gehen oder Atmen „kann uns bewusst werden, dass wir lebendig sind und atmen. Wir sind da. Wir existieren. Dann verstummt der innere Lärm und es entsteht etwas Weiträumiges, der Raum einer kraftvollen und beredten Stille.“

Wenn man gemeinsam bewusst geht oder atmet, verdichtet sich die Stille sogar zu einem spürbaren Kraftfeld, die als „donnernde Stille“ im Buddhismus bekannt ist. Solange es in unserem Kopf weiterplappert, finden wir nie wirklich Stille. Laut dem vietnamesischem Lehrer erfordert es nur ein wenig Übung, um innerlich alles zum Schweigen zu bringen, so dass man die „Stimme des tiefsten Verlangens“ hören kann – die uns sagt, dass wir in dieser Inkarnation mehr verwirklichen möchten als nur unser persönliches Selbst.

Am leichtesten lässt sich der unentwegte innere Monolog abschalten, indem man einfach ein paar Minuten lang still dasitzt und die Gedanken kommen und gehen lässt, die Aufmerksamkeit von den schweifenden Gedanken abzieht und stattdessen auf die Gegenwart, das Atmen oder Gehen, lenkt. In der Stille lässt sich ein Raum der Ruhe schaffen, in dem wir wirklich frei sind – losgelöst von Vorstellungen jeder Art, etwa der, dass etwas im Außen erfüllt sein müsse, damit wir glücklich sein können.

„Wenn wir uns von Ideen, Gedanken und Konzepten lösen, entsteht Raum für unseren wahren Geist.“ Im Buddhismus wird deshalb auch das bewusste, absichtsvolle Schweigen, das dem Menschen einfach guttut, als „edel“ bezeichnet und bei vielen Übungen praktiziert. Thich Nhat Hanh bekräftigt immer wieder: „Stille kommt letztendlich aus dem Herzen und hat wenig mit äußeren Umständen zu tun.“

Die Welt zum Schweigen bringen

Bei der Meditation verschließen wir die Ohren vor der Aussenwelt und hören nach innen. Was wir dort, auf dem Grunde der eigenen Stille, vorfinden, ist sehr individuell und paradoxerweise auch sehr universell zugleich. Eileen Caddy, eine der Mütter Findhorns, der am längsten bestehenden spirituellen Gemeinschaft Europas, hat durch das „intensive Lauschen nach innen“ Zugang zu Gott in sich gefunden. „Sei still und wisse, dass ich Gott bin“, gab er sich zu erkennen.

„Du wirst MICH allezeit und in allem, was du tust, finden können. Es spielt keine Rolle, welches Chaos um dich herum herrscht oder wie groß der Lärm draußen ist. Du kannst in den inneren Frieden und die innere Stille gehen und Mich finden.“ Alles, was Eileen mitbrachte, um diesen direkten Draht zu erhalten, war ihre Bereitschaft, nachts aufzustehen, ganz still zu sitzen und geduldig zu lauschen, was ihr die Stimme in ihrem Inneren sagte.

Doch wie das eingangs erwähnte amerikanische Experiment zeigte, empfinden sehr viele von uns gerade dieses Sitzen in der Stille als ultimative Zumutung. Nichts tun, nichts denken – das ist uns so fremd, dass wir alles dransetzen, die innere Stille durch Lärm im Außen zu vertreiben, der uns ablenkt und berieselt.

Die „digitale Stressfalle“, in die wir alle tagtäglich tappen, beschreibt Monika Schmiderer so: als werde von unseren „von der rasenden Informationsflut angetriebenen Gedanken eine mehrspurige Autobahn in unseren Köpfen freigeschlagen.“ Die Texterin war, wo sie ging und stand, online, angebunden an sämtliche Informationen, die Smartphone, Internet und soziale Medien mit Gewalt in unser aller Leben drängen: „Ich fühlte mich haltlos in einer neuen, immer verbundenen und doch so gespaltenen Welt zwischen Überfluss und Mangel, zwischen Konsum und Verzicht, zwischen Luxus und Leere, zwischen nagender Stille und lähmendem Lärm, zwischen Jagen und Gejagt-Werden.“

Ihr Weg zurück ins wirkliche Leben, in dem Momente der Stille erst möglich sind, führte über das bewusste Ausklinken: kein privates Surfen, kein allzeit bereites Handy, kein Fernseher, der im Hintergrund läuft. Ein zeitweiser medialer Detox zum Reflektieren und Relativieren, um „die virtuelle und medial verzerrte Welt wieder mit der echten abzugleichen.“

In dieser Phase der Abstinenz lernte sie die neue Ruhe, den Zeitgewinn und die Bereicherung ihres Lebens an realer statt virtueller Erfahrung neu entdecken und schätzen. Diese Herangehensweise, ideal auch in Verbindung mit bewusstem Schweigen, empfiehlt Thich Nhat Hanh ebenfalls, der schreibt: „Ein Tag ohne Sinnesnahrung – E-Mails, Videos, Bücher, Gespräche – lässt uns innerlich klar werden und löst die Ängste, Spannungen und Leiden, die sich in unserem Bewusstsein ansammeln können.“

Raum für eigene Gedanken

Manchmal findet sich am Ende eines Buches, wenn noch ein paar Seiten frei sind, der Titel: „Raum für eigene Notizen“. Das ist eine schlichtweg geniale Anregung. Wie wir uns Raum für eigene Gedanken schaffen, kreieren wir auch die eigene Stille, können ihr furchtlos begegnen und sie regelrecht feiern. Dafür müssen wir oft erst einen geeigneten Raum in unserem Alltag finden. Wo und bei welchen Tätigkeiten erfahren wir Stille: in der Natur, im Dampfbad, am Küchentisch bei einer Tasse Tee, auf dem Laufrad, beim Stricken? Und diesen Ort, diese Tätigkeit dann bewusst der Stille widmen.

In der Freizeit finden sich durchaus Gelegenheiten, sich auszuklinken, und wenn es nur für eine halbe Stunde ist. Wenn man die Welt aussperrt, geht sie nicht verloren, im Gegenteil! Oft besteht dann die Gelegenheit, sie umso deutlicher wahrzunehmen: Das Erleben geht tiefer, die Wahrnehmung wird feiner. Es ist wie beim Yoga, wenn man sich nach einer intensiven Übung still hinlegt und spürt, wie sie in unserem Körper nachhallt. Der letzte Rhythmus der „Wave“, die Tanztherapeutin Gabrielle Roth aus den fünf Rhythmen, die unser Leben takten, zusammengestellt hat, ist „Stillness“: bei langsamen Bewegungen und schließlich komplettem Innehalten erhöht sich die Selbstwahrnehmung, und man kommt zu sich, fühlt sich dem eigenen Selbst ganz nahe.

Stille ist überall dort, wo es nichts anderes zu tun gibt, außer ZU SEIN.

Sie ist in der Achtsamkeit, in der Gegenwart zu finden, im weisen Umgang mit unserer Zeit und uns selbst, in der bewussten Entschleunigung, die uns zu uns selbst zurückbringt. So lässt sich Stille durchaus auch feiern, indem man einmal ganz allein für sich einen Abend lang klassische Musik anhört.

Wenn man bei der Hausarbeit an nichts anderes als an Boden, Wasser und Wischbewegung denkt. Oder beim Christbaumschmücken, wenn wir es ohne Zeit- und Erfolgsdruck tun können. Auch und gerade in dieser „Zeit der Besinnung und Besinnlichkeit“, die oft so laut wird, können wir Stille erfahren und Raum für den Ruf des Herzens schaffen.

Deshalb möchte ich diesen Artikel mit einem wunderschönen Gedicht von Rainer Maria Rilke abschließen:

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre
verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen:
Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.


INFO

Ehrling Kagge: „Stille. Ein Wegweiser“, Insel Verlag
Thich Nhat Hanh: „Stille, die aus dem Herzen kommt.“, Lotos Verlag
Monika Schmiderer: „Switch off und hol dir dein Leben zurück.“, Knaur Verlag

Zitate:

Aus der Stille werden die wahrhaft großen Dinge geboren.
Thomas Carlyle (1795 – 1881), schottischer Philosoph

Die größten Ereignisse – das sind nicht unsre lautesten,
sondern unsre stillsten Stunden.

Friedrich Wilhelm Nietzsche

Die größte Offenbarung ist die Stille.
Laotse

Das Gegenstück zum äußeren Lärm ist der innere Lärm des Denkens. Das Gegenstück zur äußeren Stille ist innere Stille jenseits der Gedanken.
Eckhart Tolle – Our Creative Universe” target=”_blank” rel=”noopener”>Eckhart Tolle

Es gibt eine Stille, in der man meint, man müsse die einzelnen Minuten hören, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen.
Adalbert Stifter


01.11.2020
Martina Pahr
Autorin, Bloggerin und PR – Expertin


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Martina Pahr
ist Autorin, Bloggerin und PR – Expertin, hat vor einigen Jahren den Sprung ins kalte Wasser gewagt und sich selbständig gemacht. Seither tut sie, wovon sie immer geträumt hat, und lebt vom Schreiben.
Beruflich wie auch privat setzt sie sich mit den spirituellen Aspekten des Lebens und den vielen Erscheinungsformen der New-Age-Bewegung auseinander – und nicht immer ist ihr gesunder Menschenverstand überzeugt von dem, was er vorgesetzt bekommt. Sie glaubt ungebrochen an das (viel zu oft ignorierte) Göttliche im Menschen: Eigenverantwortlichkeit und Eigenmächtigkeit, Selbstwert und Selbstheilungskräfte.
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cover-martina-pahr-sorge-fuer-dichBuchtipp:

Martina Pahr: „Sorg für dich selbst, sonst sorgt sich keiner! Wie du dir selbst höchste Priorität im Leben einräumst.“
mvg Verlag
Softcover, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7474-0069-2

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