Kyudo – der Weg des Bogens

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kyudo-japanisches-bogenschiessen-professor-inagaki-genshiro-kyudoKyudo – vollendete Form und innere Ruhe

Wer sich auf Kyudo, das Japanische Bogenschießen, einlässt, braucht Achtsamkeit, Ausdauer und Geduld. Die alte Kunst der Samurai verlangt den Übenden viel ab – und schenkt ihnen dafür Schönheit und Erkenntnis.

Ein ungewohnter Anblick in einer deutschen Turnhalle: Frauen und Männer jeden Alters, allesamt in weiße Hemden, farbige Gürtel und lange schwarze Hosenröcke gekleidet, die auf Zehensocken in sehr aufrechter Körperhaltung über den Boden “gleiten”, vor der Kamiza (grob übersetzt: Götterbild oder Schrein) zum Gruß, “Rei”, niederknien und für Minuten in stiller Meditation verharren.

Später werden sie im würdevollen Ritus ihre Position vor Strohrollen einnehmen, in einer exakt definierten Bewegungsabfolge einen sehr langen Bogen heben und spannen und schließlich ihren Pfeil abschießen. Sie üben den Shomen-Stil des Kyudo – und bieten dabei einen Anblick von Würde, Konzentration und auch kraftvoller Eleganz. Das Motto dieses Stils lautet Shin – Zen – Bi, Wahrheit, Güte und Schönheit, und findet im Gerät, der Kleidung, dem Umgang miteinander, den Bewegungen und dem Zeremoniell seinen Ausdruck.

Jeder Schuss ist einmalig

Wenn man lange genug geübt hat, so der Anspruch, kommt man diesen Idealen nicht nur in der Übungshalle, dem Dojo, nahe, sondern auch im täglichen Leben. “Beständigkeit, Achtsamkeit, Selbstreflexion und Bescheidenheit”, nennt Lilo Reinhardt als Qualitäten, die das Training fordert und fördert. Und sie erklärt, was die Kampfkunst dem lehren kann, der sich auf sie einlässt: “Es geht darum, lernen zu wollen, sich selbst ehrlich zu betrachten, sich ernst zu nehmen, Geduld mit sich zu haben. Und auch Freude zu empfinden, dass man das Miteinander in einem guten Geist praktiziert.” Sie selbst übt seit mehr als 30 Jahren die alte Kunst des Japanischen Bogenschießens, dessen Ästhetik sie fasziniert. “Jeder Schuss ist einmalig”, erklärt die Übungsleiterin der Kyudo Abteilung des TSV München-Ost, “und auch eine direkte Rückmeldung, wie es einem momentan geht.”

Denn der Weg zu vollendeter Form und innerer Ruhe ist anspruchsvoll – und lässt keine Abkürzungen zu. Wer unkonzentriert oder ungeduldig ist, wird sich und damit den Schuss nicht meistern.

Der Bogen

kyudo-bogen-Kyudo_World_Cup_12Der augenfälligste Unterschied des Kyudo im Vergleich zum westlichen Bogenschießen liegt im Bogen, der in der japanischen Variante asymmetrisch und ab 2,20 Meter lang ist. Darüber hinaus verfügt er über keinerlei Zielvorrichtung, Pfeilauflage oder Stabilisatoren zum Verringern der Vibrationen. Er wird traditionell aus Holz und Bambus gefertigt, wobei heutzutage auch häufig Glas- oder Carbonfasern Verwendung finden. Traditionellerweise wird in einer speziellen Übungshalle, dem Dojo, unter Anleitung eines Lehrers trainiert. Ein klassischer Kyu-Dojo ist aus Holz gebaut und hat eine offene Seite, die sich zum 28 Meter entfernten Zielbereich hin ausrichtet; aber eine entsprechend ausgestattete Turnhalle kann auch diesen Zweck erfüllen.

Ein geschützter Raum

In einem Dojo gilt es, sowohl die Etikette zu beachten als auch die Respekt und Ernsthaftigkeit zu zeigen. Dazu gehören etwa Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit, das Verneigen beim Betreten und Verlassen des Dojo oder auch, dass man die Geräte anderer Schützen nicht ohne explizite Erlaubnis in die Hand nimmt. Für Lilo Reinhardt ist das Dojo auch ein geschützter Raum: “In dem Moment, in dem man die Halle betritt, kann man alles andere draußen lassen.”

Der Ablauf

Der Ablauf des Schießens folgt einem ritualisierten Bewegungsablauf, der aus acht präzise durchzuführenden Phasen besteht und ein gehöriges Maß an Achtsamkeit, Disziplin und Konzentration erfordert. Hier kann der Moment der Einheit von Körper, Geist und Gerät stattfinden:

  • Das Setzen der Füße, um ein stabiles Fundament für den Schuss zu schaffen.
  • Danach wird der Körper korrekt positioniert.
  • Jetzt wird die rechte Hand an die Sehne gesetzt, so dass man sie aufziehen kann, und die linke an den Bogen. Der Blick wird zum Ziel gerichtet.
  • Das Heben des Bogens.
  • Das Aufziehen oder Aufdrücken des Bogens.
  • Die Bogenspannung wird vervollständigt.
  • Jetzt löst sich der Schuss – idealerweise nicht willentlich vom Schützen.
  • Danach verharrt der Schütze noch einen Moment in der Endposition, dem Zustand der höchsten Kraft.

Ausdauer und Geduld

“Mit Ehrgeiz und Willen allein kommt man beim Kyudo nicht weiter”, erläutert Stefan Brendel, Präsident des Kyudo Verband Bayern. Die Bewegungsabläufe müssen nicht wie eine Choreographie abgespult, sondern vom Körper “begriffen” werden. “Wenn ich ins Training gehe, konzentriere ich mich zu 100 Prozent auf den Bewegungsablauf und bekomme so einen freien Kopf”, berichtet der Bayerische Meister. “Beim Joggen kann man über alles mögliche nachdenken. Beim Schießen ist dagegen kein Platz für andere Dinge als diese Konzentration.”

Viele Anfänger springen ab, wenn sie realisieren, dass vor dem Erfolg ein langes Training steht. Man muss sich nicht nur mit Bewegungsablauf, sondern auch der Theorie des Kunst auseinandersetzen. Ein Prüfungs- und Graduierungssystem bildet die Fortschritte ab. Kyudo, das hierzulande 1969 eingeführt wurde, gilt noch als “Exot” unter den Vereinssportarten. Aktuell sind rund 1300 Schützen deutschlandweit in Vereinen registriert.

Doch wer sich auf den Weg des Bogens einlässt, wird reich belohnt.

Das Training schult Gelassenheit und Konzentration, verbessert die Körperwahrnehmung und – haltung. Theoretisch kann jeder Kyudo praktizieren – unabhängig von Alter, Geschlecht und Fitness-Level. Die wichtigsten Voraussetzungen sind Ausdauer und Geduld; die Anleitung durch einen Lehrer ist unabdingbar. Stefan Brendel schätzt am Kyudo, dass man sich bis ins hohe Alter weiter entwickeln kann. Die beste Schützin in seinem Verein ist eine 76jährige Dame, die seit rund vier Jahrzehnten an ihrer Fertigkeit arbeitet.

“Weg des Bogens”

Es liegt eine besondere Faszination in einer Kampfkunst, die für den Gebrauch auf dem Schlachtfeld perfektioniert wurde und über die Jahrhunderte ihren Eingang in die Zeremonie gefunden hat. So auch Kyudo, das sich aus kyu, dem Bogen, und do, dem Weg, zusammensetzt. Dessen tödliche Schlagkraft wurde bereits im achten Jahrhundert in Ästhetik transzendiert und nicht nur im Kampf, sondern auch bei speziellen Anlässen wie Hochzeiten und Hauseinweihungen vorgeführt.

Als im 16. Jahrhundert die Feuerwaffen ihren Siegeszug antraten, verlor der lange Bogen, Yumi, als Distanzwaffe an militärischer Bedeutung. Doch die geistigen Komponenten von Kyudo entwickelten die Kriegskunst zu einer mentalen Übung für Samurai, und der Name hierfür, “Weg des Bogens”, fand ab dem Ende des 17. Jahrhunderts Verwendung.

Es entwickelten sich etliche Schulen und Stilrichtungen im Laufe der Zeit, von denen Heki und Shomen die bekanntesten darstellen. Heki ist die traditionelle Form, die aus dem Schießen auf dem Schlachtfeld entstanden ist. Shomen ist ein moderner, gemeinsamer Stil, der erst später entwickelt wurde und seine Wurzeln im zeremoniellen Stil hat. Hierzulande wird zu 90 Prozent der Heki-Stil geübt und zu 10 Prozent der Shomen-Stil, der dafür in Japan der vorherrschende ist.

Wer heute zum Bogen greift, will damit keinen Feind töten – sondern im idealen Fall sich selbst kennenlernen.

Die eigenen Grenzen hinter sich lassen

“Kyudo kann zu einem unerbittlichen Spiegel werden”, weiss Uwe Kroyer, “zur Messlatte für das eigene Wirken und Leben.” Der Übungsleiter des Isar Dojo schießt seit 38 Jahren Heki. In dieser Zeit hat er die Waffenkunst auch als Instrument der Selbsterkenntnis erfahren. Wie weit man sich auf den Sport einlässt und mit dem, was der Bogen zu lehren hat, umgeht, ist für ihn eine Charakterfrage: “Dieser Sport bietet eine Möglichkeit. Es gibt keine Grenzen – man muss sich sein Ziel selbst setzen, die eigenen Grenzen hinter sich lassen.”

Dabei ist Uwe Kroyer sowohl von der Präzision des Sports wie auch von der japanischen Kultur fasziniert, die hinter der hochentwickelten Technik steht. Die Zielsetzung des Übens beschreibt er so: “Den naturbelassen Bogen, wie überliefert zu meistern.” Dabei gibt es natürlich Inhalte, die über das Schießen hinausgehen und verschiedene Werte im Menschen fördern, wie Gelassenheit, Empathie und Gemeinsinn.

“Wenn es schwer wird, sollte man bleiben”, meint der erfahrene Schütze. Und er erklärt den oft bemühten Zen-Aspekt des Bogenschießens – eine Assoziation, die durch das 1948 erschienene Buch “Wie im Zazen (Medidationstechnik) ist die umfassende, nicht wertende Wahrnehmung Grundlage für den Erfolg. Zen und Kyudo sind aber zwei unabhängige Wege zum gleichen Ziel, die eine sehr lange Auseinandersetzung erfordern.” 


feliks-f-hoff-kyudo-die-kunst-des-japanischen-bogenschiessensInspiration und Information:

  • Buchempfehlung:
    Feliks F. Hoff: Kyudo – Das Standardwerk des Kyudo.
  • Hintergrundinformationen: kyu-do.de
  • Deutscher KyudoBund e.V.:
    Hier findet sich eine Liste der Landesverbände. Viele Vereine bieten Übungstage oder Schnupperkurse an, um das Japanische Bogenschießen kennenzulernen. Für Einsteiger ist zunächst weder die Anschaffung der traditionellen Kleidung noch des Geräts erforderlich. Dafür ist dann Zeit, wenn man sich entschließt, dabei zu bleiben.

04.02.2019
Martina Pahr

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Martina Pahr

ist Autorin, Bloggerin und PR – Expertin, hat vor einigen Jahren den Sprung ins kalte Wasser gewagt und sich selbständig gemacht. Seither tut sie, wovon sie immer geträumt hat, und lebt vom Schreiben.
Beruflich wie auch privat setzt sie sich mit den spirituellen Aspekten des Lebens und den vielen Erscheinungsformen der New-Age-Bewegung auseinander – und nicht immer ist ihr gesunder Menschenverstand überzeugt von dem, was er vorgesetzt bekommt. Sie glaubt ungebrochen an das (viel zu oft ignorierte) Göttliche im Menschen: Eigenverantwortlichkeit und Eigenmächtigkeit, Selbstwert und Selbstheilungskräfte.
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